“Wer rastet, der rostet” – nach dieser Devise lebte und arbeitete Carlos Saura. “Ich drehe Filme, um am Leben zu bleiben”, sagte der Regisseur der spanischen Zeitung “El País” in einem Interview anlässlich seines 85. Geburtstags im Jahr 2017, und auch mit 90 Jahren war das noch sein Credo. Saura dachte nicht daran, in den Ruhestand zu gehen: “Ich habe immer etwas vor. Und wenn es mal nichts gibt, erfinde ich etwas.”

Sauras Arbeitspensum war noch in seinen letzten Lebensjahren beachtlich: 2018 erschien sein Dokumentarfilm über den Architekten Renzo Piano, 2021 folgte das Musical-Drama “The King of All the World”, zu dem Saura auch das Drehbuch verfasste.

Nur aus seinem immer wieder verschobenen Herzensprojekt “33 días” ist nichts geworden: In diesem Film sollte es um die 33 Tage gehen, in denen der spanische Maler Pablo Picasso sein berühmtes Antikriegsgemälde “Guernica” schuf – für die Hauptrolle war Antonio Banderas vorgesehen, der den Maler schon in der Miniserie “Genius” von Ron Howard und Brian Grazer verkörpert hatte.

Durchbruch mit Tanzfilmen

Musik, Tanz und ihre Traditionen nahmen im Schaffen des am 4. Januar 1932 in der nordspanischen Stadt Huesca geborenen Regisseurs großen Raum ein. 2016 erschien das Dokumentar-Musical “La Jota”, in Deutschland bekannt unter dem Namen “J: Beyond Flamenco”. Der Tribut an den Jota-Tanz seiner Heimat Aragonien war Sauras 45. Film seit den Anfängen im Jahr 1955 und nach Würdigungen von Flamenco, Tango oder Fado einer von vielen Musik- und Tanzfilmen des spanischen Regisseurs.

In einer Szene des Films Carmen tanzen zwei Frauen, im Hintergrund spielt ein Mann Gitarre, andere Zuschauer klatschen.

Szene aus Carlos Sauras “Carmen” von 1983 mit Laura del Sol in der Rolle der Carmen

Mit jenem Genre gelang ihm auch der Durchbruch im Kinogeschäft. Sein größter kommerzieller Erfolg: eine Flamenco-Trilogie nach literarischen Vorlagen spanischer Klassiker. 1981 entstand in Zusammenarbeit mit dem Choreographen Antonio Gades “Bodas de sangre” (“Bluthochzeit”) nach einem Theaterstück von Federico García Lorca.

Nur zwei Jahre später, 1983, folgte der sensationell erfolgreiche Ballettfilm “Carmen”, der bei den Festspielen von Cannes als “Bester künstlerischer Beitrag” ausgezeichnet wurde und für den Oscar in der Kategorie “Bester ausländischer Film” nominiert war.

“Es war verrückt, wie gut Carmen damals in Deutschland ankam. Und der Film wird im Fernsehen immer noch gezeigt, während er hier in Spanien schon total in Vergessenheit geraten ist.” Überhaupt sei er im Ausland “viel bekannter und beliebter” als in der Heimat, so der Regisseur. “El amor brujo” (“Liebeszauber”) nach Manuel de Fallas gleichnamigem Ballett komplettierte 1986 die Tanz-Trilogie.

Sozialkritik und Filme aus der Franco-Zeit

Doch Carlos Saura lässt sich nicht allein auf seine Tanzfilme reduzieren. Bereits vor dem großen Durchbruch mit seiner Tanz-Trilogie drehte Saura sozialkritische Dokumentar- und Spielfilme.

Während seiner Tätigkeit als Dozent für Drehbuch und Regie an der Filmhochschule Madrid, die damals zum politisch aktivsten Universitätszentrum Spaniens zählte, hielt er Kontakte zur kommunistischen Filmorganisation Uninc, die Filme des Altkommunisten Juan Bardem produzierte. Das prägte den jungen Saura und so zählten zu seinen ersten Vorbildern Regisseure wie Sergej Eisenstein oder Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin, die deutschen Expressionisten und vor allem die italienischen Neorealisten.

In einer Szene des Films Die Jagd stehen vier Männer mit Gewehren und erlegten Kaninchen vor einem Berg.

Kritik am spanischen Bürgertum der 1960er-Jahre: Sauras “Die Jagd” von 1966

1959 brachte er seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, “Los golfos” (“Die Straßenjungen”) heraus, eine illusionslose, halbdokumentarische Darstellung einer Stierkämpfer-Karriere. Der Film lief zwar in Cannes, doch erst zwei Jahre später fand Saura einen Verleih. Aber die Reise nach Südfrankreich war nicht ganz umsonst. In Cannes machte Saura Bekanntschaft mit dem surrealistischen spanisch-mexikanischen Filmemacher Luis Buñuel, mit dem er sich anfreundete und der sein Schaffen stark beeinflusste.

Mit “La caza” (“Die Jagd”, 1966) landete Saura schließlich seinen ersten großen Erfolg: Der Film, eine kritische Darstellung der selbstzerstörerischen Neigungen des spanischen Bürgertums, erhielt bei den Berliner Filmfestspielen, der Berlinale, den Silbernen Bären. “Peppermint Frappé” (1986), eine Studie eines tödlich endenden Dreiecksverhältnisses, wurde ebenfalls mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Bei dem Film arbeitete der Spanier mit der Schauspielerin Geraldine Chaplin zusammen, mit der er bis 1979 auch zusammen lebte.

Carlos Saura und seine Lebensgefährtin Geraldine Chaplin werden auf dem Rollfeld des damaligen Flughafens Tempelhof in Berlin anlässlich der Berlinale von einer Frau in Empfang genommen.

Carlos Saura und Geraldine Chaplin (rechts) am Berliner Flughafen Tempelhof 1969

Carlos Sauras Kampf gegen die Zensur

Obwohl es nie Sauras Absicht war, politische Filme zu machen, wurden seine Werke als solche etikettiert. Schon kleine Gesten und manche Einstellungen wurden als politische Anspielungen interpretiert. Der Film “El jardin de las delicias” (“Garten der Lüste”, 1970) erinnerte die spanischen Zuschauer unweigerlich an den spanischen Diktator Francisco Franco, an sein Vokabular, seine Sprechweise. Folglich führte Carlos Saura einen ständigen Kampf mit der Zensur: Manche Drehbücher wurden verboten, einige fertige Filme, wie “Ana y los lobos” (“Anna und die Wölfe”, 1972) mussten Monate auf die Erlaubnis zur Aufführung warten, andere kamen mit Dialogänderungen davon.

Bis ins hohe Alter prangerte Saura immer wieder Missstände in seiner Heimat an: Die Korruption, das Verhalten von Spitzenpolitikern oder das Fernsehen mit seiner “indirekte(n) Zensur”, das unbequeme Themen meide.

Saura, der Tausendsassa 

Neben seinen zahlreichen herausragenden Regiearbeiten ist Carlos Saura aber auch für ganz andere Talente bekannt. Bevor er es auf Anregung seines älteren Bruders, des 1998 verstorbenen berühmten Malers Antonio Saura, mit dem Filmen versuchte, malte auch Carlos Saura. Doch seine liebste Beschäftigung neben dem Filmemachen wurde das Fotografieren. Saura besaß eine Sammlung von mehr als 600 Kameras, machte “jeden Tag mindestens ein Bild, um nicht aus der Übung zu kommen”, und stellte seine mehrfach ausgezeichneten Foto-Sammlungen regelmäßig aus.

Filmemacher Carlos Saura steht vor einer Fotografie, die eine Flamenco-Tänzerin zeigt. Um seinen Hals hängt ein Fotoapparat.

Der passionierte Fotograf macht jeden Tag mindestens ein Foto. Im Mai 2021 präsentierte er seine Werke in Madrid

Damit aber nicht genug: Zwischen 1997 und 2004 veröffentlichte Saura drei Romane, schrieb mehrere Drehbücher und veröffentlichte Werke über Fotografie. Er inszenierte mehrfach die Oper “Carmen” von Georges Bizet – das Debüt war 1991 in Stuttgart – und widmete sich in den 1990ern und 2000ern in seinen Filmen, wie schon früher, vor allem dem Tanz und der Musik. 2004 ehrte die Jury des Europäischen Filmpreises Carlos Saura für sein Lebenswerk. 

Saura befasste sich noch im hohen Alter mit anderen Künstlern, etwa mit dem spanischen Lyriker Federico García Lorca und dem Komponisten Johann Sebastian Bach. Wie die spanische Filmakademie mitteilte, starb Carlos Saura am Freitag (10.02.2023) im Kreise seiner Angehörigen in Madrid.

Dies ist die aktualisierte Fassung eines früher veröffentlichten Artikels.