Suzume hat es eilig, auf dem Fahrrad rollt sie die Bergstraße hinab, bis sie Souta begegnet, der zu Fuß den umgekehrten Weg nimmt. Sofort ist die Jugendliche fasziniert von der Erscheinung des jungen Mannes. Er sucht eine Ruine, und Suzume schickt ihn – in ihrer jugendlichen Unschuld eingeschüchtert – in ein verlassenes Viertel. Als bald darauf die Erde bebt, müssen beide gemeinsam eine zerstörerische, rot glühende Kraft in Form eines Wurms bändigen, um eine Katastrophe zu verhindern.

In seinem bildgewaltigen und farbenfrohen Film “Suzume”, der im vergangenen Februar im Wettbewerb der Berlinale lief und am 13. April in den deutschen Kinos startet, wirft Anime-Regisseur und Drehbuchautor Makoto Shinkai einen Blick auf die Spätfolgen der Atom-Katastrophe von Fukushima für die japanische Gesellschaft.

Wie schon in seinen Werken “Your Name. – Gestern, heute und für immer” und “Weathering With You – Das Mädchen, das die Sonne berührte”, verpackt Shinkai die große Erzählung als Coming-of-Age-Geschichte. Die 17-jährige Suzume hat bei der Katastrophe ihre Mutter verloren. Aufgezogen von der Tante, hat sie das Trauma des Verlustes verdrängt, aber nie verarbeitet.

Schimmerndes Haar, elegantes Gesicht

Auf dem Weg ihrer Selbstfindung weht zwei Stunden lang Suzumes langes und glänzend schimmerndes Haar über die Leinwand, sie hat ein elegantes Gesicht, eine eher schon zu schlanke Figur, sie ist absolut makellos. Auch ihr männliches Gegenüber ist wunderschön und vital. Selbst ihre Tante Tamaki lässt sich optisch kaum von einer Jugendlichen unterscheiden. Geradezu holzschnittartig erfüllt “Suzume” klischeehafte Schönheitsideale.

“In diesen großen Produktionen, bei denen viel Geld im Spiel ist, steht natürlich die Frage im Vordergrund: Was trifft den Massengeschmack?”, sagt Katharina Hülsmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Japanologie an der Universität zu Köln. Sie forscht unter anderem zu transkulturellen Phänomenen in Manga und Repräsentationen von Gender und Sexualität. “Manga haben häufiger ein stärker subversives Potenzial, weil kein so großer Erfolgsdruck auf einer einzelnen Veröffentlichung lastet.”

Der japanische Comiczeichner Osamu Tezuka lächelt mit Brille und Mütze vor einer Kollage seiner Werke.

“Gott des Manga”: Osamu Tezuka ebnete dem Comic den Weg zum Kulturphänomen

Anime ist der Sammelbegriff für japanische Animationsfilme, sie sind das filmische Pendant zum Manga, dem japanischen Comic. Weltweit wird die japanische Comic-Szene dafür gefeiert, klassische Rollenbilder aufgelöst zu haben: Androgyne Charaktere brachen tradierte Bilder von männlicher Stärke und weiblichem Beiwerk auf. Das sogenannte Genderbending, bei dem sich Charaktere durch Aussehen, Kleidung und Verhalten den gesellschaftlichen Erwartungen an ihr Geschlecht widersetzen, befreite die Erzählungen aus den engen Grenzen einer familiär noch heute sehr traditionell geprägten japanischen Gesellschaft.

Manga mit Vorreiter-Rolle

“In der Pubertät kann es sehr angenehm sein, nicht mit der eigenen Körperlichkeit konfrontiert zu werden”, sagt Katharina Hülsmann. In westlichen Comics hätten Frauenfiguren lange nur der schönen Dekoration gedient. “Psychologische Themen, das Sich-selbst-finden und Heranwachsen oder Mobbing kamen darin nicht vor.” Die Manga-Kultur habe hier eine Vorreiterrolle eingenommen.

In Japan sind Manga bei Mädchen und Jungs gleichermaßen beliebt, allerdings waren die Geschichten lange scharf voneinander getrennt. Die im 20. Jahrhundert zunächst in Zeitschriften veröffentlichten Kurzgeschichten richteten sich entweder an das eine oder das andere Geschlecht: Shōnen (deutsch: Junge) heißen die Manga fürs männliche, Shōjo (deutsch: Mädchen) die fürs weibliche Zielpublikum.

In einer Szene des Animationsfilms Suzume blickt die jugendliche Hauptfigur vor einem blauen Himmel mit weißen Wolken mit erstauntem Blick in die Ferne.

Vorbild Modeskizze: Ein Pickel im Gesicht eines Teenagers ist nicht vorgesehen

Ab den 1950er-Jahren entwickelte sich der Story-Manga, die Langform mit eigenen Heften und Serien. Maßgeblich geprägt war diese Entwicklung durch den Mangaka Osamu Tezuka, den “Manga no Kami-sama” – den “Gott des Manga”. Seine Reihe “Ribbon no Kishi”, die von 1953 bis 1956 erschien, zählt zu den ersten Shōjo-Manga. “Auch die Shōjo wurden ursprünglich von Männern gezeichnet”, erklärt Katharina Hülsmann.

Frauen “haben das Genre revolutioniert”

Erst in den 1970er-Jahren begannen auch Frauen, Comics zu zeichnen. “Sie haben das Genre revolutioniert.” Zeichnerinnen wie Moto Hagio und später Rumiko Takahashi hätten mit wechselnden Geschlechterrollen gespielt und die traditionell eher strikte Anordnung der Panels – den Kästen eines Comics, die einzelne Szenen abbilden – dynamischer gestaltet. “Männliche Redakteure haben das vehement kritisiert, bis sich zeigte, dass die Geschichten und Figuren auch bei Jungs gut ankamen.”

In jener Zeit stellte auch die westliche Popkultur klassische Geschlechterrollen in Frage, David Bowie trat als androgyne Kunstfigur Ziggy Stardust auf, im Glamrock erhoben Bands sexuelle Mehrdeutigkeit zum Stilmittel. “Die Ästhetik des Glamrock hatte auf jeden Fall einen Einfluss auf die Manga-Kultur”, sagt Katharina Hülsmann. Besonders Zeichnerinnen hätten Homoerotik in den 1970er-Jahren vermehrt als Motiv eingesetzt.

Die strikte Trennung zwischen Shōjo und Shōnen weichte seither immer mehr auf. Zwar wird noch immer zwischen den beiden Gattungen unterschieden, allerdings blättern Jungs heute auch in Shōjo- und Mädchen in Shōnen-Manga. Längst gibt es eine Vielzahl an Manga und Animes für Erwachsene. Dazu beigetragen hat auch der globale Siegeszug der japanischen Popkultur. Allein auf Netflix sind aktuell mehr als 100 Anime-Serien und -Filme abrufbar. Umgekehrt hat die Globalisierung – und mit ihr die Sehgewohnheiten anderer Kulturen und Länder – auch in Japan das Bewusstsein befördert, dass starke weibliche Hauptfiguren selbstverständlich sind.

Was ist Diversity?

Auch Suzume wird von der anfänglich schüchternen Jugendlichen, die ihrem Schwarm folgt, schnell zur Anführerin, die sich emanzipiert und selbst behauptet. Diese Entfaltung wird aber nahezu überstrahlt von einem Schönheitsbild, wie es sich Werbeindustrie und Modelshows nicht perfekter ausdenken könnten. Ein Pickel im Gesicht eines Teenagers ist nicht vorgesehen, eine Figur jenseits von Size zero schon gar nicht.

“Frühe Mangaka orientierten sich bei der Zeichnung ihrer Figuren an Modeskizzen, ihr Stil war auch inspiriert vom Jugendstil”, erklärt Katharina Hülsmann. “Diese Darstellungen haben bis heute überlebt, sie geben eine Fantasie wieder, ein idealisiertes Bild.” Während in Manga wie “Hōrō Musuko” inzwischen Transgender-Charaktere im Mittelpunkt stünden, kämen in einem aufwändigen Kinofilm für ein breites Publikum noch alte Regeln zur Anwendung: “Eine weibliche Hauptfigur darf die Heldin sein – sie sollte dabei aber gut aussehen.”