Die Französin Hélène Cixous ist Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie wurde in Algerien geboren und lebt in Paris. Weltweit bekannt wurde sie unter anderem durch ihren Essay “Das Lachen der Medusa” (1975), in dem sie von der Unterdrückung der Frau spricht und wie Frauen sich dagegen zur Wehr setzen sollten. Cixous ist Trägerin des französischen Nationalverdienstordens.

Die DW hat sie in Paris zum Interview getroffen.

Deutsche Welle: Die aktuellen Proteste im Iran haben angefangen, weil die 22-jährige Jina Mahsa Amini vor rund drei Monaten gestorben ist, nachdem die Sittenpolizei sie festgenommen hatte. Wie analysieren Sie die Situation der Frauen im Iran – haben sie gar keine Rechte? Wie zentral ist das für die Demonstrationen?

Hélène Cixous: Fast seit Anfang der westlichen feministischen Bewegungen in den 1970er-Jahren waren es die Iranerinnen, die den Widerstand gegen die Entfremdung und den Wunsch nach Freiheit symbolisiert haben. Es gibt im Iran seit hundert Jahren eine Revolution nach der anderen. Bei jeder Protestbewegung – bei der hin zu einer begrenzten Moderne durch den Shah Mohammad Reza Pahlavi, der von 1941 bis 1979 regierte, oder auch den Erneuerungen danach, wenn man sie so nennen kann, durch Ruhollah Chomenei, der 1979 an die Macht kam, etc. – sind die Frauen die Opfer, der Vorwand oder auch die Geiseln der Bewegungen.

Die Iranerinnen sind regelrechte Vorbilder und sehr gebildet. 1979 waren sie die Symbole der Nächstenliebe, Solidarität, des Mitgefühls. Sie waren es, die auf der Straße demonstrierten. Dann kam der erste Akt der Repression: Die Frauen mussten sich mit dem Schleier verhüllen. Wer hätte gedacht, dass dieser Schleier für alle Zeit zum Symbol des Kampfes der Frau gegen Unterdrückung würde? Die aktuelle Episode war das Streichholz, das man auf das Pulverfass geworfen hat. Auf die Situation, unter der die Frauen seit Jahrzehnten leiden. Meine iranischen Freundinnen erzählen mir von ihrem Doppelleben. Auf der Straße verkleiden sie sich. Zuhause sind sie frei und entkommen der Virulenz dieser Diktatur. Es ist nicht überraschend, dass diese Frau zu einem solchen Symbol wurde. Große Befreiungskriege und -bewegungen werden häufig durch nur einen Zwischenfall ausgelöst.

Ihr bekanntestes Werk ist der Essay “Das Lachen der Medusa”. Darin beschreiben Sie unter anderem, dass Frauen sich durch einen weiblichen Schreibstil und mit ihrem Körper einem patriarchischen System entgegensetzen sollten. Inwiefern liefert die Situation im Iran Parallelen dazu?

Mein Text war eine Aktualisierung der griechischen Mythologie. Es gibt kein besseres Beispiel, um die Stellung der Frau und den mörderischen Kampf der Männer gegen Frauen zu beschreiben. Medusa war eine von drei Gorgonen, den Töchtern der Meeresgottheiten Phorkys und Keto. Sie war die einzig sterbliche unter ihnen. Die Männer fürchteten sich vor ihr. Wenn sie sie ansahen, wurden sie zu Stein. Aber warum hatte sie so große Macht über die Männer? Weil sie die Männer sah. Letztere hatten nicht die Zeit, sie zu sehen. Männer wollen Frauen nicht sehen und sie hängen ihnen Schleier über, damit diese unsichtbar, zu Phantomen werden. Es ist schrecklich, zu welchem Grade man Frauen verschleiert hat, auch im täglichen Leben. Dabei sind Frauen keine Objekte, keine verschleierten Puppen. Sie strahlen regelrecht. Sie sind wunderschön. Meine Medusa ist um die Welt gereist. Gerade ist sie ganz offensichtlich im Iran.

Schwarz-weiß-Porträt von Hélène Cixous: Sie trägt einen weiten Blazer und eine weiße Bluse und stemmt die Hände in die Hüfte. Sie hat den Kopf leicht geneigt und lächelt.

Hélène Cixous wurde 1937 in eine jüdische Familie geboren. 1971 kam sie nach Paris. (Aufnahme von 1983)

Manche sagen, wenn das Kopftuchgebot im Iran fällt, fällt das Regime. Sehen Sie das auch so?

Beides würde miteinander einhergehen. Der Schleier steht für die Tyrannei. Übrigens glaubt keiner meiner iranischen Freunde und Freundinnen, dass die Ankündigung, dass die Sittenpolizei abgeschafft werde, die Situation in irgendeiner Weise verbessern wird. Eine Frau, die sich auf der Straße den Schleier vom Kopf reißt, wie es die Iranerinnen tun, ist unglaublich mutig. Sie hat die Angst vor dem Tod besiegt. Aber diese starke Geste bedeutet nicht den Sieg. Denn die Frau muss den Schleier wieder aufsetzen, wenn sie in ein öffentliches Gebäude geht. Das Regime zeigt eine unglaubliche Grausamkeit. Es hat vor kurzem zwei junge Menschen auf so schreckliche Art und Weise getötet, dass die gesamte Menschheit davon betroffen sein sollte. Dies ist die Todesstrafe in ihrer schlimmsten Form. Die Regierung ist zur Folter bereit. Das will sie in das Gedächtnis der Iraner, vor allem der jungen Leute und Frauen, einbrennen. Sie begraben die Frauen bei lebendigem Leibe und sagen, wir reißen euch das Herz heraus.

Wie kann ein Regime bestehen, das auf der Grausamkeit gegenüber Frauen basiert?

Das weiß nur das Regime selbst. Aber ich glaube, zu so etwas sind keine Menschen, sondern nur Unmenschen fähig. Auch wenn solche Dinge nicht nur im Iran geschehen.

Aber Frauen wurden doch immer als das “schwache Geschlecht” bezeichnet…

Ja, aber das denkt man doch schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil, Frauen sind das starke Geschlecht. Deswegen haben Männer ja so Angst vor ihnen.

Woher nehmen die Iranerinnen all diesen Mut?

Das können Ihnen nur die Iranerinnen selbst sagen. Aber ich bin tief beeindruckt von ihrem Mut. Und natürlich frage ich mich, ob ich überhaupt dazu legitimiert bin, mich dazu zu äußern. Schließlich bin ich nicht im Iran und riskiere mein Leben nicht wie die Menschen dort. Aber meine iranischen Freundinnen haben mir gesagt, warum machst du nichts? Rede! Wenn du sprichst, hören das die Leute vor Ort. Es ist mir wichtig zu sagen, ich habe euch gehört.

Eine Frau hat einen Strick um den Hals und hält ein Foto von Mohsen Shekari in der Hand.

Weltweit solidarisieren sich Menschen mit den Protestierenden im Iran – wie hier in Paris am 8. Dezember 2022 bei einer Demo gegen den Vollzug der Todesstrafe

Inwiefern haben die Proteste im Iran einen Einfluss auf andere autoritäre Regimes? Könnten sie zu Widerstandsbewegungen in anderen Ländern führen?

Das glaube ich nicht. Jede Situation ist anders und hängt von nationalen Begebenheiten ab. Es kommt auf den richtigen Moment an. Ansonsten käme es ja direkt zur Weltrevolution. Aber natürlich statuieren die Iranerinnen mit ihrem Aufstand ein Exempel, das man nicht mehr auslöschen kann. Es erwärmt die Herzen, gerade von jungen Leuten, die irgendwann die Nachfolge der Demonstrierenden antreten müssen, wie zum Beispiel beim Kampf gegen die Klimaerwärmung.

Ist der Schleier für Sie in jedem Fall ein Zeichen der Unterdrückung?

Ja. Er soll Frauen verschwinden lassen, sie ausschließen. Manche sagen zwar, es gäbe einen “guten Schleier”. In Frankreich sehen ihn manche Frauen als politische Geste. Denn das laizistische Land ist dagegen, dass Frauen sich verschleiern. Also ist der Schleier für sie eine Kampfansage gegenüber der Regierung. Aber warum denken diese Frauen nicht eher über die Situation der Frauen im Iran nach? Sehen sie denn nicht, dass in einem solchen Land mit langer Tradition der Schleier das Leben, die Freiheit, den Körper und die Hoffnung beschränkt?

Wie sehen Sie die nahe Zukunft des Irans?

Das weiß ich nicht. Selbst die Menschen im Iran wissen es nicht. Was im Moment passiert, ist beeindruckend aber auch sehr fragil. All diese Demonstrationen der Revolte, des Stolzes, der Würde – das ist wie ein Vulkan mit einer außergewöhnlichen Schlagkraft. Doch dieser Vulkan muss befeuert werden. Wer macht das? Der Ukraine hilft der Westen, und das ist auch gut so. Aber wer wird den Iranerinnen und Iranern helfen, wenn einmal alle Demonstrierenden im Gefängnis sitzen oder hingerichtet wurden?

Das Gespräch führte Lisa Louis.