Andrea Riseborough darf ihre Oscar-Nominierung als beste Schauspielerin behalten. Die Oscar-Akademie teilte am Dienstag mit, die getroffene Entscheidung werde nicht rückgängig gemacht. Zuvor war Riseborough überraschend für einen Oscar in der Kategorie “Beste Schauspielerin” nominiert worden – für ihre Hauptrolle einer alkoholkranken Mutter in “To Leslie”. Der Film war zwar von Kritikern gelobt worden, an den Kinokassen hatte er aber weniger als 30.000 Dollar eingespielt. Damit gehört “To Leslie” zu den Filmen mit den niedrigsten Einnahmen, die jemals für einen Oscar nominiert wurden.  

Auch bei den Nominierungen für andere renommierte Preise wie Golden Globes, Screen Actors Guild oder BAFTAs, die üblicherweise als Vorboten der Oscars gelten, tauchte Riseborough nicht auf. Sie wurde allerdings für die Independent Spirit Awards nominiert, mit denen kleinere Filme ausgezeichnet werden, die bei den Academy Awards oft übersehen werden.

Prominente Unterstützung

Die Oscar-Nominierung kam so überraschend, dass viele Beobachter Riseborough und “To Leslie”-Regisseur Michael Morris beschuldigten, gegen die Lobby-Regeln der Oscar-Akademie verstoßen zu haben. Demnach soll das To-Leslie-Team Insider-Verbindungen zu Hollywood-Stars genutzt haben, um die Chancen auf eine Nominierung zu erhöhen. Morris und seine Frau, die Schauspielerin Mary McCormack, zeigten “To Leslie” ihrem Freund und Journalisten Howard Stern. Dieser stellte den Film dann in seiner beliebten Radioshow vor.

Andrea Riseborough vor einer glitzernden Wand

Schauspielerin Riseborough: Neben Cate Blanchett, Michelle Yeoh, Ana de Armas und Michelle Williams nominiert

Zu den prominenten Unterstützerinnen und Unterstützern zählten zudem Charlize Theron, Gwyneth Paltrow und Edward Norton als Gastgeber von Filmvorführungen. Kate Winslet und Amy Adams moderierten eine virtuelle Fragerunde mit Riseborough. Cate Blanchett, die in diesem Jahr ebenfalls als beste Schauspielerin nominiert ist, lobte Riseboroughs Leistung in ihrer Dankesrede bei den Critics’ Choice Awards am 15. Januar.

Ringen um Reichweite

Der größte Anstoß kam aber online. Während große Hollywood-Studios oft Millionen für Fernseh- und Printwerbung ausgeben, um die Oscar-Wahlberechtigten für sich zu gewinnen, nutzte das Team von “To Leslie” die sozialen Medien und forderte Prominente auf, online über den Film und Riseboroughs Leistung zu schreiben. 

“Es ist die engagierteste, emotional tiefste und körperlich erschütterndste Leistung, die ich seit langem gesehen habe”, lobte Edward Norton in einem Tweet.

Und auf Instagram nannte Gwyneth Paltrow “To Leslie” ein “Meisterwerk. Riseborough sei unvergleichlich und sollte jeden Preis gewinnen, einschließlich “all derer, die noch nicht erfunden wurden.”

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Das Hollywood-Fachmagazin Variety berichtete über eine E-Mail, die Mary McCormack an berühmte Freunde geschickt und sie aufgefordert haben soll, vom Beginn der Oscar-Nominierung am 12. Januar bis zum Ende der Abstimmung am 17. Januar “jeden Tag zu posten”. Die E-Mail soll auch Bilder und vorgeschlagene Hashtags enthalten haben, mit denen die Posts eine maximale Reichweite in den sozialen Medien erzielen sollten. 

Macht, Privilegien und Anklänge an #OscarsSoWhite 

Für viele hatte dies den Beigeschmack eines ungerechten Privilegs. Es gab sogar Vorwürfe des institutionellen Rassismus: Riseborough, eine weiße Schauspielerin, wurde für einen winzigen Film nominiert, der kaum konventionelles Marketing betrieben hat, während zwei wichtige Leistungen schwarzer Schauspielerinnen – Viola Davis in “The Woman King” und Danielle Deadwyler in “Till” – nicht berücksichtigt wurden, obwohl beide in größeren, erfolgreicheren Filmen mitgespielt haben.

“Wir leben in einer Welt und arbeiten in einer Branche, die sich so aggressiv für die Aufrechterhaltung des Weißseins einsetzt und eine unverschämte Misogynie gegenüber schwarzen Frauen aufrechterhält”, sagte “Till”-Regisseurin Chinonye Chukwu als Reaktion auf Deadwylers Ablehnung.

Filmszene aus 'Till': Danielle Deadwyler, eine schwarze Frau in einem Kostüm der 1950er Jahre, steht auf der Bühne hinter Mikrofonen.

Danielle Deadwyler, die für ihre Rolle als Bürgerrechtlerin Mamie Till-Bradley viel Beifall erhielt, wurde nicht nominiert

Die Kritik ist ein Echo auf April Reigns #OscarsSoWhite-Kampagne im Jahr 2015. Damals kritisierte die Aktivistin und Filmliebhaberin die Oscar-Akademie dafür, schwarze Künstlerinnen und Künstler systematisch zu übersehen. Die #OscarsSoWhite-Bewegung trug dazu bei, wichtige Veränderungen bei der Oscar-Akademie durchzusetzen, darunter eine mehrjährige Anstrengung zur Diversifizierung der Wahlberechtigten – eine Anstrengung, die viele mit den Best-Picture-Oscars für “Moonlight” und “Parasite” nur wenige Jahre später verbinden. 

Die Macht der sozialen Medien

Doch wenn man Riseboroughs Kampagne für “To Leslie” als eine Geschichte von Macht und Privilegien darstellt, wird die Rolle der sozialen Medien bei ihrem überraschenden Erfolg unterschätzt. Befreundete Kontakte nutzen, um einen Film zu unterstützen, ist nichts Neues. In den 1940er- und 50er-Jahren, als die Schauspieler noch bei einem einzigen Studio unter Vertrag standen, waren die Mitglieder der Oscar-Akademie gezwungen, in einem Block abzustimmen. Fox-Schauspieler stimmten für Fox-Filme, Leute von Warner Brothers für WB-Filme. Und MGM, das bekanntermaßen “mehr Stars als der Himmel” unter Vertrag hatte, gewann Jahr für Jahr die Oscars.

In jüngerer Zeit wurden manche Produzenten immer dreister, beugten oder brachen die Regeln der Academy, um den Mitwirkenden ihrer Filme einen Vorteil zu verschaffen. Am schamlosesten war der berüchtigte Harvey Weinstein, der den zweifachen Oscar-Preisträger Robert Wise (“West Side Story”, “The Sound of Music”) beauftragte, einen Kommentar zu schreiben, in dem er Weinsteins Anwärter “Gangs of New York” lobte und die Akademie aufforderte, dessen Regisseur Martin Scorsese einen Oscar zu verleihen. 

Zeit für neue Spielregeln

Generell ist der Hollywood-Kalender während der Preisverleihungssaison voll mit privaten Abendessen, Lunchs und anderen Anfeuerungsgelegenheiten. Der große Unterschied zu Riseboroughs Kampagne besteht darin, dass sie nicht hinter verschlossenen Türen bei VIP-Veranstaltungen stattfand, sondern öffentlich im Internet, wo jeder sie sehen konnte.

Oscars, die Filmgeschichte schrieben

Die Vorschriften der Oscar-Akademie, die die direkte Lobbyarbeit einschränken, wurden für eine analoge Ära konzipiert. Wer für eine Kandidatin oder einen Kandidaten werben wollte, musste Plakatflächen buchen oder Zeitungsanzeigen aufgeben.

Im Zeitalter der sozialen Medien ist die Grenze zwischen öffentlich und privat, zwischen der persönlichen Meinung und einer Werbeanzeige, bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden. Anstatt Riseborough und einen kleinen Indie-Film dafür zu kritisieren, dass sie verstanden haben, wie man sich online promotet, sollte die Oscar-Akademie lieber ihre Regeln ans digitale Zeitalter anpassen.

Adaption aus dem Englischen: Paula Rösler