Wenn Dmitri Zhuikov über den Krieg in seiner Heimat spricht, schleicht sich ein Zittern in seine Stimme. Dann steigen die Bilder von Charkiw in ihm auf, wo der 39-Jährige seine Kindheit verbracht hat. Das Lachen der Freunde und Schulkameraden, die Bilder der Plätze, wo sie als Jugendliche herumhingen, die Parkbank, auf der Dmitri das erste Mal ein Mädchen küsste: All das ist ihm präsent, wenn er an Charkiw denkt.

Zhuikovs Heimatstadt ganz im Osten der Ukraine war bis zum russischen Überfall die zweitgrößte Metropole im Land. Gut 1,5 Millionen Menschen lebten hier, nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Annalena Baerbock und Dmytro Kuleba stehen vor den Trümmern eines Gebäudes in Charkiw (10.01.2023)

Die deutsche Außenministerin Baerbock mit ihrem ukrainischen Kollegen Kuleba in Charkiw (10.01.2023)

In Charkiw, einem der ersten Ziele der Invasoren, ist das Ausmaß der Zerstörungen besonders groß. Davon konnte sich auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock überzeugen. Bei einem Überraschungsbesuch Anfang Januar nannte sie Charkiw ein “Sinnbild für den absoluten Irrsinn des russischen Angriffskriegs und das Leid der Menschen”. Zugleich stehe Charkiw für den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich der russischen Aggression zu widersetzen, so Baerbock inmitten zerbombter Häuser.

Zwar hatten russische Truppen die Millionenstadt monatelang belagert, bombardiert und mit Artillerie beschossen, russische Soldaten waren bis in Außenbezirke der Stadt vorgedrungen, hunderte Zivilisten starben. Doch am Ende konnte das ukrainische Militär die Region befreien. Im vergangenen Herbst war das.

Ein ausgebranntes Auto vor einem zerstörten Gebäude

Zerstört und teilweise ausgebrannt: das Gebäude der staatlichen Regionsverwaltung von Charkiw

“Eine schwere Niederlage für die Russen”, sagt Dmitri Zhuikov, “seither ist die Stadt für ihre Artillerie nicht mehr erreichbar, ein Fortschritt.” Gefahr durch strategische Bomber und Mittelstreckenraketen droht allerdings weiterhin.

Ganze Stadtteile wurden zerschossen

Viele Menschen hätten Charkiw verlassen, so Zhuikov. Zurück blieben die Ruinen: schwer beschädigte Gebäude, verteilt über das gesamte Stadtgebiet. Besonders schwer traf es die Wohngebiete am nordöstlichen Stadtrand, wo die Russen versucht hatten vorzustoßen. “Ganze Vororte”, sagt Zhuikov, “haben sie komplett zerschossen.” Schwere Zerstörungen auch in der Stadtmitte: Das Rathaus, das Gebäude der Regionsverwaltung von Charkiw, Einrichtungen der Universität – viele öffentliche Gebäude wurden empfindlich getroffen.

Das beschädigte Giprokoks-Gebäude im Zentrum von Charkiw

Schwer beschädigt: das Giprokoks-Gebäude im Zentrum von Charkiw

Geborstene Glasscheiben, eingestürzte Dächer, völlig ausgebrannte Gebäude – rund 3500 beschädigte Wohnhäuser zählte Bürgermeister Ihor Terechow bis Juli vergangenen Jahres, rund 500 davon seien nicht mehr instand zu setzen. “Mindestens 150.000 Menschen haben ihr Dach über dem Kopf verloren”, sagt Zhuikov. Denkmalgeschützte Jugendstilgebäude traf es ebenso wie ein nagelneues Shopping-Center im Zentrum, eine Schwimmhalle, ein riesiges Kraftwerk oder auch den Sportkomplex der Universität samt Stadion, wo Zhuikov als kleiner Junge Fußball spielte. 

Dmitri Zhuikov lächelt

Dmitri Zhuikov

1983 in Charkiw als Sohn einer Architektin geboren, trat Dmitri Zhuikov früh in die Fußstapfen seiner Mutter. An der Technischen Universität studierte er Bau und Architektur, arbeitete anschließend als Architekt. Er lernte seine aus Mariupol stammende Frau kennen, ebenfalls eine Architektin.

Gemeinsam gingen sie 2012 nach Dessau und machten in der Bauhaus-Stadt ihren Masterabschluss. Das Paar blieb in Deutschland und hat heute zwei kleine Kinder. Dmitri Zhuikov arbeitet für ein Architekturbüro in München.

Mit der Heimat fühlt er sich weiter eng verbunden. “Auch wenn meine Familie hier in Sicherheit ist, viele meiner Bekannten, Freunde und Verwandten sind weiter in der Ost-Ukraine”, sagt er, “und ich leide mit ihnen.”

Der Masterplan von Norman Foster

Im Dezember war es der britische Stararchitekt Norman Foster, der die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Charkiw lenkte. Foster stellte Bürgermeister Terechow einen Masterplan für den Wiederaufbau vor. Er beruht auf fünf Pilotprojekten: Das “Kulturerbe-Projekt” soll ein neues architektonisches Wahrzeichen im Stadtzentrum schaffen, das “Flussprojekt” einen sechs Kilometer langen begrünten Streifen zwischen den Flüssen Charkiw und Nemyschlya für Fußgänger und Radfahrer verwandeln.

Fünf Menschen sitzen an einem Tisch

Stararchitekt Sir Norman Foster (rechts) präsentierte in Charkiw seinen Masterplan für den Wiederaufbau

Für das “Industrieprojekt” will Foster, der seinen Masterplan gemeinsam mit einer ukrainischen Architektengruppe entwickelte, ein Kohlekraftwerk zu einem Zentrum für saubere Energie und Lebensmittel umbauen. Ein Pilotprojekt “Wissenschaft” soll Technologieunternehmen, Forschungsfirmen und Start-ups in die ostukrainische Stadt locken. Und schließlich will Fosters “Wohnungsbau-Projekt” die existierenden Gebäude moderner und energieeffizienter machen.

Wenn er an den Wiederaufbau seiner Heimatstadt denkt, juckt es Dmitri Zhuikov förmlich in den Fingern. Er möchte am liebsten dabei sein, mitplanen und mitbauen. Und sieht vor allem große Chancen: “Der Wiederaufbau könnte Charkiw die Energiewende bringen”, glaubt der Architekt. Viele Gebäude seien schon vor dem Krieg kaum gedämmt gewesen. “Der Bedarf ist riesig.” Er weiß auch: Was nicht in der Planung steht, wird auch nicht umgesetzt. “Und es kann richtig kalt werden in Charkiw”, so Zhuikov.

Brennendes Kraftwerk in Charkiw

Russlands Armee zielt auf die Zerstörung der kritischen Infrastruktur

Im Krieg, sagt er, hätten sich viele Menschen stärker vernetzt, hätten gelernt, sich gegenseitig zu helfen, sich offensiver und engagierter für ihre Belange einzusetzen. Das werde Charkiw zugute kommen, ist Zhuikov überzeugt, “denn für den Wiederaufbau ist Bürgerbeteiligung wichtig.”

Doch bevor der in Gang kommen kann, muss erst wieder Frieden einkehren. Derzeit würden immer noch viele Gebäude notdürftig repariert und die kritische Infrastruktur aus Fernwärme-, Strom- und Wassernetzen wiederhergestellt. “Wir Ukrainer können gut improvisieren”, sagt Zhuikov. Hilfe von außen, wie sie auch die deutsche Außenministerin Baerbock versprach, sei gut angelegt. “Für die Ukraine ist der Krieg eine Tragödie, allerdings mit großen Chancen”, sagt Dmitri Zhuikov, “ich hoffe, sie werden genutzt.”