Über sein Management ließ Ballettdirektor Marco Goecke am Dienstag wissen: “Ich bitte um Verzeihung dafür, dass mir letztlich der Kragen geplatzt ist.” Er wolle sich bei Frau Hüster und allen Beteiligten für seine “absolut nicht gutzuheißende Aktion aufrichtig entschuldigen. Im Nachhinein wird mir klar bewusst, dass dies eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion war.” Er erklärte die Attacke mit der “nervlichen Belastung zweier kurz aufeinander folgender Premieren (9.2. Den Haag, 11.2. Hannover)”.

Die Entschuldigung kommt aus Sicht der Journalistin Wiebke Hüster, die er wegen einer schlechten Kritik über ihn am Samstag mit Hundekot beschmiert hatte, reichlich spät – und sei in ihren Augen auch keine richtige Entschuldigung, sagte Hüster im Interview mit der DW. Goecke habe schließlich eine Straftat begangen, als er sie körperlich attackiert habe. 

Bereits am Montag hatte der Ballettchef sich in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk für den Vorfall gerechtfertigt. Er sei ein bisschen erschrocken über sich selbst und die Wahl der Mittel sei bestimmt nicht super gewesen, sagte er. Aber auch seine Person, sein Werk, sein Geschäft sei über Jahre beschmutzt worden. Hüsters Kritiken seien persönlich – und das seit 20 Jahren. Auch das Wort “Vernichtungskrieg” fiel. 

Tänzer erscheinen verwischt auf der Bühne

Kritik an der Kunst? Nicht jeder trägt sie mit Fassung

“Stricken an Legende”

Goecke stricke an einer Legende, dass sie ihn angeblich seit 20 Jahren mit negativen Kritiken verfolge, so Hüster gegenüber der DW. “Das ist totaler Quatsch. Ich bin eine seriöse Journalistin, ich hab mir nichts vorzuwerfen. In 17 Jahren habe ich gerade neun Mal über Herrn Goeckes Arbeit geschrieben und davon zwei Mal über die Maßen positiv.” 

Die Journalistin hat sich mittlerweile von dem Schock erholt. “Mir schlägt seitdem eine solche Welle der Solidarität entgegen – nicht nur von Journalistenkollegen, sondern auch von Leserinnen und Lesern. Das hält mich quasi aufrecht.” Auch ausländische Medien haben sie schon zu dem Vorfall interviewt: “Die waren alle schockiert von der Brutalität des Vorfalls”, sagt sie. “Ich glaube, deswegen ist das Presseecho auch international so groß, weil mitten im Herzen von Europa, in einer Demokratie ein Künstler so reagiert, weil er mit einer Kritik nicht zufrieden ist.”

Kein normaler Arbeitstag

Seit 23 Jahren schreibt Wiebke Hüster für die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” Kritiken zu Premieren von Theaterstücken oder Tanzaufführungen. Die Kunstschaffenden erfahren dann am nächsten Tag, ob ihr Werk wohlwollend aufgenommen wurde – oder eben nicht. Doch bis zu der Attacke am 11. Februar war noch nie jemand aus Wut über Hüsters Kritik handgreiflich geworden. 

Als am Samstagabend in Hannover das Ballett “Glaube – Liebe – Hoffnung” Premiere feierte, war es für Wiebke Hüster ein ganz normaler Arbeitstag, bis Ballettchef Marco Goecke in der Pause im Foyer des Opernhauses auf sie zukam, an der Leine hatte er seinen Dackel. Persönlich hatte sie den 50-Jährigen nie kennengelernt, doch er kannte sie offenbar. Wütend, so berichtete Hüster der Nachrichtenagentur dpa, habe er ihr vorgeworfen, dass sie schlimme persönliche Kritiken verfasse. Dann habe er sie gefragt, was sie bei der Premiere zu suchen habe, ihr schließlich mit Hausverbot gedroht.

Offenbar, so vermutete Hüster, hatte Goecke sich maßlos über ihre am Vortag erschienene Kritik über seine Ballettinszenierung “In the Dutch Mountains” (hier im Youtube-Clip ein Auszug) in Den Haag geärgert. Darin heißt es: “Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht … Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach ihr verlangen.”

Eklat im Foyer

Harte Worte – und Goecke war sichtlich in seiner Eitelkeit gekränkt. Die Kritik habe zu Abonnementskündigungen geführt, für die Hüster verantwortlich sei, wie er ihr vorwarf. Doch der Worte nicht genug: Goecke zog eine Tüte mit Hundekot hervor und schmierte damit ihr Gesicht ein. “Als ich gespürt habe was er gemacht hat, habe ich geschrien”, berichtete die Kritikerin. Sie stand unter Schock, und während Marco Goecke einfach in der Menge verschwand, führte die Pressesprecherin des Theaters sie in den Waschraum der Intendanz und half ihr, sich zu säubern. Danach fuhr Hüster zur Polizei und erstattete Anzeige. Sie ist überzeugt, dass der Ballettchef die Attacke geplant habe: “Das war Vorsatz.” 

Am Sonntag bestätigte die Oper den Vorfall. Man habe sich bei der Journalistin entschuldigt, hieß es, und weiter: “Die Staatsoper Hannover ist ein offener Ort des respektvollen Miteinanders und Austausches. Wir sind der Meinung, dass nun Ruhe und Sorgfalt geboten sind. Wir werden die arbeitsrechtlichen Schritte gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen.”

Sechs Tänzerinnen und Tänzer auf einer Bühne.

Marco Goeckes Choreographien – wie hier Dog Sleep – werden meist hochgelobt

Angriff auf die Pressefreiheit

Goecke wurde am Montagnachmittag mit sofortiger Wirkung suspendiert und hat Hausverbot, um “Ballettensemble und Staatstheater vor weiterem Schaden zu schützen”. Der Ballettdirektor habe gegen alle Verhaltensgrundsätze der Staatsoper Hannover verstoßen, die Journalistin persönlich zutiefst beleidigt und sowohl das Publikum als auch die Mitarbeitenden des Hauses extrem verunsichert. “Damit hat er der Staatsoper und dem Staatsballett Hannover massiv geschadet.” 

Marco Goecke steht an einem Treppengeländer

Goecke kam in der Spielzeit 2019/2020 nach Hannover

Für Wiebke Hüsters Arbeitgeber, die FAZ, war der Schritt überfällig; Goeckes Aktion sei ein “Angriff auf die freie, kritische Kunstbetrachtung, schrieb die Zeitung am Sonntag. “Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit, … die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und sich ihr gegenüber im Zweifelsfall auch durch Anwendung von Gewalt ins Recht zu setzen. In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.” 

Neben der Körperverletzung wertete die Zeitung den demütigenden Akt auch als “Einschüchterungsversuch gegenüber unserer freien, kritischen Kunstbetrachtung”, der “das gestörte Verhältnis eines Kunstschaffenden zur Kritik” offenbare.

Auch Frank Rieger vom Deutschen Journalisten-Verband in Niedersachsen sprach von einer Attacke auf die Pressefreiheit. “Wer auf Kritik mit Gewalt reagiert, der ist nicht tragbar.”

“Verpiss dich!”

Wiebke Hüster ist übrigens nicht die erste FAZ-Mitarbeiterin, die es mit einem erbosten Kunstschaffenden zu tun bekommt. 2006 entriss ein Schauspieler ihrem Kollegen Gerhard Stadelmaier den Notizblock und wollte laut daraus vorlesen, scheiterte aber an der unleserlichen Schrift. Der Feuilletonist war damals einer der bekanntesten Kritiker im Land, sein Urteil bei den Theatermachern gefürchtet. Als er noch während der Aufführung den Saal verließ, schrie ihm der Schauspieler hinterher: “Hau ab, du Arsch, verpiss dich!”

Die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses Karin Beier erklärte 2021 gegenüber dem Deutschlandradio, was sie von Kritiken und Rezensionen hält: sie seien “Scheiße am Ärmel der Kunst”. Und erst im September 2022 beschimpfte der belgische Theater- und Filmschauspieler Benny Claessens, so berichtet die FAZ, eine unliebsame Kritikerin wüst als psychisch gestört und drohte ihr “Your time is over, Darling (Deine Zeit ist vorbei, Liebling).”

Legendär auch die Wutausbrüche des verstorbenen Weltstars Klaus Kinski gegenüber Journalisten-Fragen: “Sie fragen mich lauter stumpfsinnige Sachen” Oder: “Von einer Analphabetin muss ich mir so einen Quatsch erzählen lassen!” 

Unmut über Kritiker ist übrigens kein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. Martin Walser suggerierte ihn in seinem berühmten Roman “Tod eines Kritikers” (2002). Und schon Goethe mokierte sich 1774 in seinem “Gedicht “Rezensent” über mangelnde Wertschätzung und forderte: “Schlagt ihn tot den Hund!” Doch schon damals fanden nicht alle solch radikalen Maßnahmen gerechtfertigt. Der Dramatiker Heinrich Leopold Wagner antwortete Goethe mit einem Gegengedicht, das mit den Worten endet: “Schmeißt ihn todt, den Hund! Es ist ein Autor, der nicht kritisiert will sein.” 

Dieser Artikel wird fortlaufend aktualisiert.