Ihre Arbeiten irritieren – und das sollen sie auch. Das hat sich schon auf der diesjährigen Biennale gezeigt. Allzu passend fügten sich die urtümlich wirkenden Skulpturen von Sandra Mujinga in die von Witterung texturierten Mauern des Arsenale von Venedig ein – ein historisches Werftgelände, das heute für Ausstellungen genutzt wird. Die kongolesisch-norwegische Künstlerin ließ die Räume und ihre Skulpturen neongrün beleuchten und kreierte damit das Gefühl, sie könne in eine bereits im Zerfall befindliche Zukunft blicken. Und so erschauderten auch die Besuchenden, verweilten fasziniert – oder flüchteten schnell.

Jetzt bespielt Sandra Mujinga den Hamburger Bahnhof, ein zentraler Ort für große Entdeckungen zeitgenössischer Kunst in Berlin. 2021 gewann sie den Preis der Nationalgalerie, damit geht eine Solo-Schau einher, die nun, am 9. Dezember, eröffnete. Auch hier bleibt die Künstlerin irritierend.

Sandra Mujinga steht vor einem grünen Hintergrund mit hängenden Gebilden

Sandra Mujinga inmitten ihrer Arbeit “Sentinels of Change & Reworlding Remains”, die 2022 auch an der Biennale von Venedig gezeigt wurde

Zwischen Oslo und Berlin

Dabei ist die junge Frau durchaus nahbar. “Ich bin sehr ehrlich mit mir selbst, und durch diese Aufrichtigkeit kann ich Menschen berühren”, sagt die Künstlerin. Unterschiedliches Publikum sei sie gewohnt, das brauche sie, so Mujinga gegenüber der DW. Sie ist viel als DJ aufgetreten, mag den direkten Kontakt, die Clubs, das Tanzen.

1989 in Goma in der Demokratischen Republik Kongo geboren, wuchs Mujinga in Norwegen auf, kennt die Tücken der weißen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Arbeiten beschäftigen sich auch mit Aspekten von Rassismus und Kolonialismus. “Natürlich wächst man so mit der Erfahrung auf, zur Fremden gemacht zu werden, und das ist auch wirklich übel. Aber je älter ich werde, desto mehr sehe ich das Fremdsein auch als eine Art Geschenk. Will man denn wirklich in eine Welt gehören, die schlecht ist?”

Im Hamburger Bahnhof, der Nationalgalerie der Gegenwart, ist ein riesiger Fuß ausgestellt

Braucht Zeit: die neueste Arbeit von Sandra Mujinga

Kunst und Science Fiction

Das “Worldbuilding” – also das Erschaffen von imaginären Welten, wie es in Bereichen Science Fiction und Fantasy üblich ist – spielt eine große Rolle in Mujingas Arbeiten. “Wir sind so konzentriert auf die menschliche Erfahrung. Aber Science Fiction gibt uns die Möglichkeit, andere Welten zu denken”, sagt Mujinga. “Ich mag es, bestehende Strukturen neu zu denken, anders zu denken, wie wir als Menschen zusammenleben, wie wir auf diesem Planenten leben, auch zusammen mit nicht-menschlichen Lebewesen.”

Ihre Wesen fungieren wie eine Art Portal in diese Welten. In der großen Halle des Hamburger Bahnhofs manifestiert es sich in der Form einer raumhohen “Black Box”, eines schwarzen Objekts, bespielt mit Medienarbeiten, die es wie Haut umschließen. In den Projektionen arbeitet Mujinga mit Texturen von Leder und Kunstleder, setzt sie in Beziehung zu menschlicher Haut, dunkler Haut.

Haut als Symbol

Eine hand verschmilzt mit einem Felsen

Videostill aus Mujingas Arbeit: wo die Grenze von Mensch und Textur beginnt, sich aufzulösen

“Ich benutze das Dunkle auch, um den Raum der Handlungsfähigkeit zu betonen”, sagt Mujinga. “Hautfarbe ist sehr politisch, sie wird codiert und als Waffe gebraucht.” Der Ausstellungstitel “I Built My Skin with Rocks” nimmt Bezug auf ein Zitat des aus Martinique stammenden französischen Poeten, Schriftstellers und Philosophen Édouard Glissant. “Je batis a roches mon langages” (auf Deutsch “Ich baue meine Sprache aus Steinen”) schrieb er 1969. Glissant war ein Vordenker postkolonialer Identität und Kulturtheorie.

Der Elefant im Raum 

Für die aktuelle Medien-Skulptur war der Gedanken an einen Elefanten, mit seiner dicken, robusten Haut, ein wichtiger Angelpunkt, so Mujinga. Sie habe über Artentod nachgedacht, und was es für eine Verantwortung berge, der letzte seiner Art zu sein, der letzte Elefant. In ihrer Skulptur mischt sich das Menschliche und das Tierische zunehmend. Shapeshifting ist ein weiteres zentrales Element in Mujingas Arbeiten, vielleicht auch, weil sie selbst – wie viele andere – die Welt als volatil, vielschichtig und verletzlich erlebt.

Eine schimmernde Platte auf einem schwarzen Sockel mit drei Stufen

Ein Spiel aus Nähe und Distanz – mit selbstkomponiertem Soundscape

Es spielt eine große Rolle, ob man ihre Objekte aus Nähe oder Distanz betrachtet. Und damit spielt Mujinga auch. “Der Körper wird unsichtbar durch den Maßstab, wenn man extrem reinzoomt. In gewisser Weise ist es so: je näher wir kommen, desto schwieriger ist es, das große Ganze zu erfassen.” Der Elefant im Raum, der schwer zu greifen ist. Es geht dabei auch um Fragen, die sie bereits in ihrer Arbeit “World View” von 2021 beschäftigt haben: “Was ist real?” und “Wer beobachtet wen?”

Grenzen und Durchlässigkeiten

“Wir alle haben Überlebensmechanismen entwickelt, Coping-Strategien”, so Mujinga. “Ein dicke Haut zu haben ist das eine, aber Haut erinnert genauso an unsere Verletzlichkeit. Was mir Angst macht, ist die Gefühllosigkeit, die Starre.” Mit ihrer Kunst hoffe sie einen Raum zu eröffnen, um etwas zu aktivieren. Das Irritierende von Mujungas Arbeiten bleibt kraftvoll: Ihr neues Werk geht mit seiner mysteriösen Vielschichtigkeit unter die Haut – oder prallt vielleicht auch an ihr ab.