Dass Südkorea einmal eine einflussreiche Kulturnation werden würde, war vor der Jahrtausendwende noch nicht abzusehen. Nach Jahrzehnten als japanische Kolonie, dem Koreakrieg und wechselnden Militärregierungen kam es erst 1987 zu echten demokratischen Reformen. Seitdem hat sich Südkorea, das einst “Land der Morgenstille” genannt wurde, mit Weltmarken wie Samsung, Hyundai und LG in Windeseile zwar zu einem wichtigen wirtschaftlichen Player entwickelt. Auf kultureller Ebene allerdings kannte man im Westen bis vor wenigen Jahren nicht viel mehr als die Musikrichtung K-Pop und den Song “Gangnam Style” aus dem ostasiatischen Tigerstaat.

Bei Kinofans war das etwas anders: Seit der Jahrtausendwende sorgten Filme wie Park Chan-wooks “Oldboy” oder “Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling” von Kim Ki-duk weltweit für Aufsehen. Mittlerweile sind koreanische Filme und Serien aus der globalen Unterhaltungsindustrie nicht mehr wegzudenken. Das Festival von Busan gilt als das wichtigste asiatische Filmfest, und mit 1,7 Milliarden US-Dollar Einnahmen ist Südkorea der fünftgrößte Kinomarkt der Welt. Von den USA bis Afrika wird koreanisches Entertainment konsumiert, und für alle ist etwas dabei: von Horror über Action bis zur Seifenoper. Die Hallyu, die koreanische Neue Welle in der Popkultur, hat die ganze Welt überrollt. Schon spricht man in Anlehnung an Hollywood, Bollywood (Hindi-Filme) und Nollywood (nigerianisches Kino) von Südkorea als Hallyuwood.

Ein Mann und eine Frau liegen nackt in einem Bett, ein weiterer Mann mit einer Gasmaske berührt die Frau

Bilder zwischen Traum und Realität: Filmstill aus “Oldboy” (2003)

Filmische Grenzen sprengen

Und die Tendenz ist sogar steigend: Die großen US-amerikanischen Studios haben Zweigstellen in Südkorea aufgemacht, um dort Filme koproduzieren zu können, US-amerikanische Sequels südkoreanischer Filme sind populär, und auch die Streaming-Giganten Netflix und Disney+ balgen sich um die Vorherrschaft in Sachen koreanischer Film. Netflix will 2023 an den großen Erfolg von “Squid Game” anschließen und setzt verstärkt auf Filme und Serien aus dem ostasiatischen Land. Die Netflix-Produktion “Kill Boksoon” und weitere Filme werden auch auf der Berlinale 2023 Premiere feiern. Und in europäischen Kinos sorgt der neueste Streich von Starregisseur Park Chan-wook für Furore: “Die Frau im Nebel”.

Eine Frau zündet sich in einem engen Toilettenraum eine Zigarette an

Filmstill aus Bong Joon-hos “Parasite” (2019)

Natürlich sind nicht alle Filme und Serien aus Südkorea “großes Kino”. Genauso können sie auch sperrig oder oberflächlich sein, doch ein roter Faden ist erkennbar: Der innovative und hoch kreative Umgang mit Erzählweisen, Kamera und Schnitt. Trotz des kommerziellen Erfolgs ihrer Werke scheinen Regisseurinnen und Regisseure aus Südkorea nur wenige Abstriche in ihrem künstlerischen Anspruch zu machen. Der Blick über den narrativen Tellerrand scheint hier nicht die Ausnahme, sondern geradezu die Regel zu sein. Bilder wie der Protagonist Oh Dae-su, der in “Oldboy” einen lebenden Oktopus verzehrt oder in Videospiel-Ästhetik mit einem Hammer seine Gegner angreift, sind ungewöhnlich und brennen sich ins Gedächtnis ein.

Erzählstoff liegt auf der Straße

Seine Lust an der Grenzüberschreitung und seine kreative Kraft schöpft der koreanische Film sicher auch aus der jüngeren Geschichte des Landes. Viele der Großmeisterinnen und -meister des koreanischen Kinos sind groß geworden in der Zeit des zivilen Widerstands gegen die Militärregierung. Sie haben in den Filmclubs ihrer Universitäten heimlich verbotene Filme gesehen und darüber diskutiert. Auch die Trennung vom diktatorisch regierten Nachbarland im Norden und der Siegeszug des Turbokapitalismus in kürzester Zeit trugen zu ihrem kritischen Blick auf die Welt bei. Die Machenschaften von Großkonzernen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, all das gibt eine Menge Stoff für Filmemacher. Und Südkorea ist ein Land, in dem es wichtig ist, hip und innovativ zu sein: Nicht nur in der Hauptstadt Seoul, sondern in allen Großstädten des Landes blühen kreative, weltoffene Kulturszenen. Wer hier künstlerisch auffallen will, muss etwas Besonderes schaffen.

Ein Mann betrachtet staunend einen Gegenstand, hinter ihm Menschen in pinken Overalls

Szene aus der südkoreanischen Erfolgsserie “Squid Game”

Wenige Regisseurinnen

Auf staatlicher Seite wiederum half eine hohe Quote für einheimische Produktionen. Wer schon einmal in Südkorea war, weiß: Das Kino wird nicht nur im privaten Rahmen zelebriert, sondern auch öffentlich: So ziert einen Kreisverkehr im Zentrum der Großstadt Jeonju, die für ihr internationales Filmfestival bekannt ist, die Statue eines Kameramanns – und zwar ganzjährig, nicht nur in der Festivalsaison.

Die nächsten Jahre werden zeigen, wie sich Südkoreas Filmindustrie weiterentwickelt. Eine ihrer größten Schwächen ist, dass sie noch immer sehr männerdominiert ist. Erst in den letzten Jahren kommt hier etwas Bewegung hinein: Beim Filmfestival von Busan 2019 waren 27 Prozent der koreanischen Filme von Frauen, was verglichen mit den Vorjahren ein Quantensprung war. In Sachen Emanzipation muss sich in der Filmindustrie von Südkorea also noch einiges tun, damit das Land mit der westlichen Konkurrenz mithalten kann.

Jetzt, wo koreanische Filme und Serien in aller Munde und Mainstream geworden sind, könnte Hallyuwood dasselbe Schicksal ereilen wie seine Vorgänger: ein kreativer Stillstand oder Krisen finanzieller Natur. Doch ähnlich wie sich Hollywood immer wieder selbst erneuert, so wird es auch Südkoreas Kino mit seiner jungen, aber dennoch starken Filmtradition schaffen, auch in Zukunft relevant zu bleiben. Es gibt schließlich genug Geschichten zu erzählen aus dem Land der Morgenstille.