Die Niederlande begehen dieses Jahr die 150-jährige Abschaffung der Sklaverei. Die aus Kamerun stammende und in den Niederlanden lebende Fotografin Angèle Etoundi Essamba hat das Gedenkjahr zum Anlass genommen, um die dunkle koloniale Vergangenheit künstlerisch zu reflektieren: Sie schuf die aus 37 Bildern bestehende Fotoserie “Noire Vermeer”, in der sie schwarze Frauen mit einem “Bernsteinohrgehänge” inszeniert. 

“Noire Vermeer”: Bernstein- statt Perlenohrgehänge

In ihrer fotografischen Neuinterpretation des berühmten Werkes “Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge” vom niederländischen Maler Jan Vermeer (1632-1675) verwendet Angèle Etoundi Essamba einen Bernstein-Ohrring anstelle der Perle im Original. Ihre schwarzen Modelle hat sie als freie, selbstbewusste Frauen inszeniert: “‘Das Mädchen mit dem Bernsteinohrgehänge’ nimmt sich das volle Recht zu schauen, zu glänzen und zu existieren. Sie mustert uns mit ihrem durchdringenden Blick, starrt uns an und lädt uns zur Kontemplation und zum Entzücken ein. Damit demonstriert sie innere Stärke, Intimität und Schönheit”, beschreibt Essamba das Werk gegenüber der DW. “Aber sie bleibt auch unerreichbar, sie muss nur sich selbst gerecht sein.”

Frühe Faszination für den niederländischen Maler Jan Vermeer

Vermeers Gemälde, die aus der Zeit des Goldenen Zeitalters der Niederlande stammen, gelten heute als Meisterwerke der europäischen Kunst. 28 seiner Bilder werden derzeit in einer bereits ausverkauften Ausstellung in Amsterdam ausgestellt, darunter auch “Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge”. Nach seinem Tod im Alter von nur 43 Jahren geriet der Künstler fast 200 Jahre lang in Vergessenheit und wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt.

Gemälde, das ein Mädchen mit einem Perlenohrgehänge abbildet, in goldenem Rahmen

Jan Vermeers “Mädchen mit dem Perlenohrgehänge” (ca. 1665) ist derzeit im Amsterdamer Rijksmuseum zu sehen

Essamba begeisterte sich schon früh für Vermeers Werk. “Was mich an seiner Arbeit immer fasziniert hat, war die zentrale Stellung, die er den Frauen in seinen Gemälden einräumt”, erklärt die Fotografin. In ihrer Neuinterpretation seines wohl berühmtesten Gemäldes findet sich eine inhaltliche Parallele zu Vermeers Werk: “Die Themen seiner Gemälde sind lebendig wirkende Personen aus dem Alltag. Genau wie die Frauen und Mädchen, die ich fotografiert habe”, so Essamba. Außerdem ist sein Einfluss auf ihre “Noire Vermeer” auch formal erkennbar – in der Art der Licht- und Kontrastgestaltung sowie in der Verwendung der Primärfarben Blau und Gelb. 

Goldenes Zeitalter – für wen?

Bei aller Faszination für den Künstler Vermeer sieht Essamba die als Goldenes Zeitalter bekannte Epoche (17. Jahrhundert, Anmerkung d. Red.), in der er seine Werke malte, kritisch. “Es war eine Zeit, in der die Niederlande zur führenden Wirtschafts- und Handelsmacht der Welt aufstiegen, es war auch eine Blütezeit der Kunst und Kultur des Landes”, erklärt Essamba. Doch all die Pracht und der Glanz sollten nicht die Schattenseiten vergessen lassen: “Der Wohlstand basierte auf einem Kolonialsystem voller Gewalt, das wiederum auf Ungleichheit und Ausbeutung beruhte.”

Eine dunkelhäutige Frau trägt eine blau-gelbe Kopfbedeckung und einen Bernstein-Ohrring und schaut über die Schulter in die Kamera

Wer betrachtet wen – das Mädchen uns, oder wir das Mädchen?

Deshalb müsse man sich heute fragen: “Goldenes Zeitalter für wen?” Essamba führt aus, dass Schwarze “damals in Gemälden als Besitztümer dargestellt” worden seien, “hauptsächlich um den hohen Status ihrer Besitzer zu betonen”. Indem sie in ihren Bildern schwarze Frauen in den Fokus rücke, schaffe sie ein neues Narrativ – sie “zelebriere diese rätselhaften schwarzen Figuren, die in der holländischen Malerei jahrhundertelang in den Hintergrund gedrängt wurden”.

“Die Niederländer reden nicht gerne über Sklaverei”

Die 1962 geborene Fotografin lebt bereits seit 40 Jahren in den Niederlanden und verfolgt aufmerksam, wie dort mit der Vergangenheit umgegangen wird: “Die Niederländer reden nicht gerne über die dunkle und sehr schmerzhafte Zeit der Sklaverei in ihrer Geschichte”, sagte sie gegenüber der DW. Insofern ist ihr Projekt auch ein Betrag zur Aufarbeitung des Unrechts, das Schwarze erleiden mussten.

Schwarz-Weiß-Foto der Fotografin Angèle Etoundi Essamba mit Haaren vor dem Gesicht

Die kamerunische Fotografin Angèle Etoundi Essamba lebt und arbeitet in den Niederlanden

Die Niederlande waren während des 16. und 17. Jahrhunderts eine der größten Kolonialmächte der Welt. Sie versklavten schätzungsweise 600.000 Menschen, die sie unter unmenschlichen Bedingungen aus Afrika nach Südamerika und in die Karibik verschifften. Als eines der letzten Länder Europas schaffte das Königreich den Sklavenhandel offiziell zum 1. Juli 1863 ab. “Diese Zeit hat die Gesellschaft der Niederlande, wie wir sie kennen, geprägt und ist somit unser aller Geschichte,” meint Essamba.

Im Dezember 2022 haben sich die Niederlande offiziell für das Unrecht entschuldigt und die Langzeitfolgen, die bis heute noch spürbar sind, anerkannt. Die Regierung wolle sich gemeinsam mit den Nachkommen der Sklaven für die Aufarbeitung und Linderung des Leids einsetzen, erklärte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte damals.

Gedenkjahr 2023 ist ein “wichtiger Schritt”

Doch viele kritisierten die offizielle Entschuldigung der Regierung als halbherzig. “Die Geschichte der Sklaverei hat auch heute noch negative Auswirkungen auf den Alltag mancher Menschen. Viele leiden weiterhin unter Rassismus und Diskriminierung”, meint Essamba.

Eine dunkelhäutige Frau mit Bernsteinohrring und gelb-blauem Kopfschmuck schaut in die Kamera

“Girl with an Amber Earring – Noire Vermeer” ist Essambas Kunst-Statement zur Sklaverei-Geschichte der Niederlande

Und trotzdem: “Es ist ein wichtiger Schritt der Anerkennung, der dazu beitragen kann, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.” Das Gedenkjahr trage auch dazu bei. Sie selbst will mit  ihrem “Vermeer noire”-Projekt dazu einladen, einen kritischen Blick auf die Vergangenheit zu werfen und überholte Sichtweisen zu dekonstruieren.