Von psychischen bis physischen Behinderungen gibt es viele Variationen. In Film und Fernsehen oder der Kunst werden sie in den letzten Jahren immer sichtbarer. Viele Künstlerinnen und Künstler, die selber eine Behinderung haben, gehen heute offen damit um.

Vom kleinwüchsigen “Game of Thrones”-Star Peter Dinklage über die vom Tourette-Syndrom betroffene Pop-Ikone Billie Eilish hin zu der in einer Psychiatrie lebenden Malerin Yayoi Kusama – die Liste bekannter Schauspieler, Künstler oder Musiker mit körperlichen oder kognitiven Behinderungen wird länger.

Diversität – was der Begriff heute meint

Auch in Deutschland tut sich etwas in der Kulturlandschaft. Jutta Schubert, Projektleiterin beim Verband “Eucrea” für Kunst und Behinderung im deutschsprachigen Raum, sieht einige Fortschritte. Sie stellt fest, dass Diversität heutzutage nicht mehr nur auf Menschen mit Migrationshintergrund oder die sexuelle Orientierung von Personen beschränkt ist, sondern auch Menschen mit Behinderungen umfasst.

Zwei Schauspieler auf einer Theaterbühne lehnen sich über eine Matratze.

Inklusion am Theater: Die “Freie Bühne München” ist Arbeitsstätte für Menschen mit und ohne Behinderung

“In Deutschland war es eine ganze Zeit lang so, dass Menschen mit Behinderung komplett vergessen wurden”, sagt Jutta Schubert. Das liege auch daran, dass sich die meisten Förderprogramme des Bundes für Kulturinstitutionen auf andere Gruppen konzentrierten. “Menschen mit Behinderung stehen eigentlich erst seit, ich würde sagen, ein, zwei Jahren richtig im Mittelpunkt beim Diversity-Thema”, so Schubert.

Inklusion am Theater

Heute sei bei Ausschreibungen, wie zum Beispiel vom “Fonds Darstellende Künste” oder von der Kulturstiftung des Bundes, deutlich erkennbar, dass das Thema Diversität umfassender wahrgenommen wird. “Institutionen begreifen, dass sie sich finanzielle Unterstützung sichern können, wenn sie Menschen mit Behinderungen anstellen oder Barrierefreiheit fördern”, erläutert Schubert.

Von der Kulturstiftung des Bundes wurde jüngst ein neues Programm namens ‘pik’ ins Leben gerufen, das gezielt die Förderung dieses Bereichs zum Ziel hat. Es ermöglicht langfristige Kooperationen zwischen Theatern und inklusiven Gruppen und enthält auch ein Mentoring-Programm. “Eine solche Entwicklung wäre vor acht oder zehn Jahren noch undenkbar gewesen”, erläutert Schubert.

Tänzerin trotz Querschnittlähmung

Außerdem ergreifen immer mehr Kultureinrichtungen Eigeninitiative, insbesondere im Theaterbereich. Jutta Schubert verweist dabei auf die Münchener Kammerspiele, zu deren Ensemble bereits sechs Menschen mit Behinderung zählen. Auch weitere Theater würden Interesse daran zeigen, Menschen mit Behinderung für Produktionen zu engagieren oder sie sogar fest anzustellen und in das Ensemble zu integrieren.

Entwicklung in der Filmbranche

Auch in der Filmindustrie wird verstärkt auf Diversität geachtet. Um authentisch wirkende Darstellungen zu generieren, setzen deutsche Produktionsfirmen wie die UFA heute auf Schauspieler mit Behinderungen. Sie beziehen sich damit auf die europäische Charta der Vielfalt. “Wenn deutsche Produktionsfirmen Schauspielerinnen oder Schauspieler für Rollen suchen, die zum Beispiel einen Menschen im Rollstuhl mit Migrationshintergrund oder jemand mit der Glasknochenkrankheit darstellen, wird zunehmend darauf geachtet, dass sie nicht mit Schauspielern ohne Behinderung besetzt werden.” 

RJ Mitte lächelt, vor ihm steht ein Mikrofon.

Der 30-jährige RJ Mitte, bekannt aus der Serie “Breaking Bad”, hat eine zerebrale Bewegungsstörung

Inspiriert wird die deutsche Filmindustrie dabei von Entwicklungen in den USA, wo Schauspieler wie RJ Mitte (“Breaking Bad”) oder Peter Dinklage (“Game of Thrones”) Karriere machen. Auch wenn sie nicht als Aktivisten für Menschen mit Behinderung agieren, sind sie für Jutta Schubert Vorbilder: “Peter Dinklage spricht sehr offen über seine Behinderung und äußert sich auch manchmal in Interviews darüber, welche Veränderungen passieren müssten”. Diese Offenheit habe laut Schubert einen positiven Einfluss auf die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft.

Ausstellungen und Auszeichnungen für Künstler mit psychischer Behinderung

Abgesehen von der Theater- und Filmbranche erfährt auch die Museumslandschaft Veränderung. Die Ausstellung “Art and Alphabet” in der Hamburger Kunsthalle von 2017 ist ein Beispiel dafür. Sie integrierte das Werk von Harald Stoffers, eines erfolgreichen Hamburger Malers mit einer psychischen Behinderung. “Dieser Maler, der ausschließlich mit Schrift arbeitet, gestaltete dort einen ganzen Raum”, erzählt Jutta Schubert.

Für kunstschaffende Menschen mit psychischer Behinderung wurde in Deutschland im Jahr 2000 ein eigener Preis geschaffen. Die Augustinum Stiftung vergibt den “Euward” – ein Kunstwort aus “Europa” und “Award”, was “Auszeichnung” meint – alle drei Jahre an europäische Künstlerinnen und Künstler. Die drei Ausgezeichneten erhalten unter anderem eine Ausstellung ihrer Werke im Haus der Kunst in München, was ihre Werke sichtbar macht. Dieses Jahr wird wieder ein Euward vergeben.

Zugänge zur Profession erleichtern

Eine der größten Hürden für Menschen mit Behinderung ist der Einstieg in den Kunst- und Kulturbetrieb. “Für Schauspielschulen waren Behinderungen bis vor einigen Jahren ein Ausschlusskriterium,” so Jutta Schubert. Doch die Schulen würden sich immer mehr öffnen. Der Verband, für den sie sich engagiert, hat ein eigenes Programm initiiert, um Inklusion in der Kunstausbildung zu fördern. Bislang beteiligen sich daran Hochschulen mit Studiengängen für bildende und darstellende Kunst aus fünf Bundesländern. 2024 soll das Programm auf andere Bundesländer ausgeweitet werden.

Schauspieler auf der Bühne

“ARTplus” ist das erste bundesweite Projekt zur künstlerischen Qualifizierung und Ausbildung von Kreativen mit Behinderung

Wenn Jutta Schubert alle Inklusionsbestrebungen in der Kulturbranche, die in Deutschland in den letzten Jahren unternommen wurden, mit jenen in den Nachbarländern oder auch in Großbritannien vergleicht, kommt sie dennoch zu dem Schluss, dass es hierzulande “noch sehr, sehr viel Nachholbedarf” gebe.