“Wieder Krieg. Wieder Leiden, notwendig für niemanden, völlig ohne Grund. Wieder Betrug, wieder die Verdummung und Verrohung der Menschen.”

Diese Worte stammen von Leo Tolstoi. Der Patriarch der russischen Literatur schrieb sie 1904 nieder – in seinem Artikel “Besinnt euch!”, der sich auf den damals ausgebrochenen russisch-japanischen Krieg bezog. Tolstoi, einst selbst Kriegsoffizier, war zum glühenden Pazifisten geworden.

Bayrische Staatsoper mit ukrainischer Flagge

Solidarität mit der Ukraine: Die Bayrischen Staatsoper bekennt Flagge

Eine (Anti)-Kriegsoper in Zeiten der “Sonderoperation”

Genau dieses Zitat wählten die Macher des Projektes “Krieg und Frieden”, einer Oper von Sergej Prokofjew nach dem gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi, an der Bayrischen Staatsoper als Leitfaden für ihre fünfstündige Aufführung.

Es handelt sich um eine Produktion, die das Attribut “mega” verdient, nicht nur, weil sie einen musikalischen Riesenapparat (allein im solistischen Bereich sind 70 Rollen zu besetzen) verlangt und die Oper schon damit zu einer Herausforderung für jedes Theater macht. Den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als Oper zu inszenieren – dessen Sujet sich ursprünglich auf den Verteidigungskrieg bezieht, den Russland 1812 gegen die Truppen von Napoleon führte -, ist ein ideologischer Drahtseilakt, den die Macher in München jedoch virtuos meistern. Ihre Inszenierung wird so zu einem flammenden Appell für den Frieden und die Freiheit.

Das Datum der Premiere war symbolisch: Es war der 5. März, jener Tag, an dem vor genau sieben Jahrzehnten, im Jahr 1953, sowohl der Komponist Sergej Prokofjew als auch der Diktator Joseph Stalin starben.

Portrait von Sergej Prokofjew in der Inszenierung in München

Der Autor ist anwesend: Sergej Prokofjew (Schwarz-Weiß-Bild in der Mitte) gehört zu den Säulenheiligen der russischen Kultur

Beteiligt ist in München ein internationales Spitzenensemble, angeführt von Dirigent Vladimir Jurowski, dem amtierenden Generalmusikdirektor der Bayrischen Staatsoper, und Starregisseur Dmitri Tscherniakov. Beide sind prägende Figuren der russischen Kultur der letzten zwei Jahrzehnte, und beide agieren zurzeit in einer gesunden Entfernung zu den Kremlmauern.

Der Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 hat die Macheran den Rand der Verzweiflung und das Projekt an die Schwelle zum Scheitern getrieben. Dennoch entschied sich das gesamte Team für das Wagnis “Krieg und Frieden” – gerade aus dem Gefühl der Verantwortung heraus und als Bekenntnis zur Kunst als einer relevanten Form der gesellschaftlichen Stellungnahme – auch und gerade in Zeiten des Krieges.

“Voina i mir” – was der Krieg mit der Welt macht

Man kommt an der Entstehungsgeschichte des Werks nicht vorbei: Der vierbändige Roman von Leo Tolstoi ist ein Schlüsselwerk nicht nur der russischen, sondern der Weltliteratur. Den Titel kann man auch als “Krieg und die Welt” übersetzen (“voina” bedeutet eindeutig Krieg, aber das russische Wort “мир” (phonetisch “mir”) hat die Doppelbedeutung “Frieden” und “Welt”) – und alten Quellen zufolge war das ursprünglich offenbar Tolstois Absicht. Hätte er sich heute für eine Bedeutung entscheiden müssen, hätte er bestimmt die zweite gewählt.

Menschenmenge auf der Bühne

Der Mensch und der Krieg: Die Inszenierung geht auf die Suche

Der Schriftsteller analysiert in seinem Jahrhundertwerk die Natur der Gewalt – damals in Gestalt des französischen Heeres, das 1812 Russland überfiel. Gewalt zerstört die friedliche Welt, lässt Menschen leiden. Mit Gewalt ist die Welt nicht zu verändern, so Tolstois hochaktuelle Aussage.

Sergej Prokofjew schrieb seine Oper wiederum unter dem Eindruck des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion 1941. Obwohl der Komponist in seinem Libretto (an dem er mit seiner zweiten Frau Mira Mendelssohn arbeitete) Tolstois Mammutwerk zwangsläufig zu einer Art “Readers Digest” verdichtete, ist auch sein zentraler Gedanke der einer friedlichen Welt, der er die plumpe, eindimensionale Realität des Krieges gegenübergestellt.

Sergej Prokofjew und seine Frau Mira schauen erschrocken nach vorne

Erstarrt: Sergej Prokofjew und seine Frau und Mira Mendelssohn beim Kongress der sowjetischen Komponisten 1948 – wo seine Werke quasi auf die schwarze Liste kamen

Der Komponist machte auch noch andere Gewalterfahrungen: Als er in den 1930er-Jahren trotz einer erfolgreichen Karriere im Westen in die Sowjetunion zurückkehrte, um “die Nummer eins” unter den Komponisten des Landes zu sein, war Prokofjew vollkommen der Willkür des Stalin-Regimes ausgeliefert. Der große Verriss aller modernistischen Strömungen in der Musik bedeutete faktisch ein Aufführungsverbot seiner Werke. An “Krieg und Frieden” arbeitete er lebenslang und konnte die Endfassung seines Werkes doch nie auf der Bühne sehen.

Die musikalische Internationale

Für die Produktion in München rekrutierten Jurowski und Tscherniakov eine ganze Schar der Sängerelite aus der Ukraine, Russland, Lettland, Litauen, Usbekistan, Belarus, Armenien sowie der westlichen Hemisphäre; die Titelpartien des Liebespaares, des Fürsten Andrei Bolkonski und Natascha Rostowas, der weiblichen Lieblingsfigur der russischen Literatur, sind mit dem aus Moldawien stammenden Andrej Zhilihovsky und der Ukrainerin Olga Kulchynska fulminant besetzt.

Zwei Sängerinnen in einer Szene der Oper

Olga Kultschynska (vorne) als Natascha Rostowa und Alexandra Yangel als Sonja in einer Szene der Oper

Letzte war wegen ihrer Teilnahme an einer vermeintlich “russischen” Produktion, wie aus  opernnahen Kreisen zu vernehmen ist, Anfeindungen einiger ihrer radikal gesinnten Landsleute ausgesetzt, entschied sich aber dennoch für das Projekt.

Als ob der Krieg nach Moskau käme

Dmitri Tscherniakov geht radikal vor: Er bringt den Krieg dorthin, wo man ihn bis heute in weiter Ferne wähnt – ins Herz von Moskau.

Die gesamte Handlung, sowohl die friedlichen Episoden des ersten Teils der Oper als auch die brutalen Schlacht- und Mordszenen des zweiten Teils, spielen sich im Säulensaal, einer ikonischen und jedem Russen bekannten Location im Zentrum von Moskau ab. Ob der Empfang zur Zarenkrönung oder später die Aufbahrung verstorbener Staatsoberhäupter von Lenin über Stalin bis hin zu Gorbatschow: Der Säulensaal steht für russische Geschichte. Hier sind Tscherniakovs Helden gestrandet – als Kriegsflüchtlinge von heute, isoliert von der Außenwelt.

Der Krieg offenbart sich als eine Art grausames Rollenspiel ohne Regeln, der die Helden in einen Sog sinnloser Brutalität hineinzieht.

Sänger (in T-Shirts mit ukrainischer Symbolik), Dirigent und Regisseur auf der Bühne

Das Ensemble wurde nach der Aufführung frenetisch gefeiert

Jurowski, dem die Inszenierung von “Krieg und Frieden” als “ein zentrales Werk des Opernrepertoires des 20. Jahrhunderts” schon lange am Herzen lag, hält das überdimensionale Ensemble präzise und kraftvoll zusammen. Von ihm stammt auch die aktuelle Fassung des Werkes. So wurde in München auf patriotische Massenszenen verzichtet, die Prokofjew einst eingepflegt hatte, um die zensur gnädig zu stimmen.

“Warum bringen Menschen andere Menschen um?” Diese zentrale Frage aus Tolstois Roman liegt ununterbrochen in der Luft. Eine Antwort gibt es nicht. Was aber bleibt, ist ein sich von Takt zu Takt steigernder Hass auf den Krieg.