“Fratres” (Brüder) heißt eines der berühmtesten Werke von Arvo Pärt. Als der weltbekannte estnische Komponist sein so asketisches wie eindringliches Werk schuf, schrieb man das Jahr 1977. Estland war Teil des Sowjetischen Imperiums.

Die traumatische Erfahrung der russischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg mit brutalen Verbrechen an der Zivilbevölkerung ist immer noch ein Tabuthema. Der Komponist selbst fühlt sich als “innerer Emigrant” in der eigenen Heimat und Fremder im internationalen Musikbetrieb. Doch die Zeiten ändern sich: Heute ist Estland ein freies und florierendes Land, Mitglied von EU und NATO, und der Komponist Pärt mit seinen 88 Jahren einer der beliebtesten und meist gespielten zeitgenössischen Komponisten weltweit. 

Genau diese historische Dynamik vermittle in der aktuell desaströsen Lage eine zumindest schwache Hoffnung, meint Alexander Graf Lambsdorff. Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion des Bundestages und designierter Botschafter der Bundesrepublik in Moskau nahm neben dem Soziologen und Osteuropa-Experten Gerhard Knaus am Konzert und der Podiumsdiskussion im Beethoven-Haus teil.

“Die Solidarität Europas mit Estland, aber auch mit der Ukraine ist für mich ein Zeichen, dass es, wenn es auch über längere Zeit schlimm sein kann, am Ende doch einmal wieder besser wird”, so Lambsdorff während eines Gesprächskonzerts im Beethoven-Haus Bonn am 24. Februar, dem Jahrestag des “Putin-Krieges” gegen die Ukraine.

Kraft der Worte, Macht der Klänge

Mit der Veranstaltung im bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal leistete das Beethoven-Haus, Forschungsstätte im Geburtshaus Ludwig van Beethovens in Bonn, seinen Beitrag zur Überwindung der Schockstarre und Sprachlosigkeit, in die der Überfall Russlands auf das westeuropäisch orientierte Nachbarland die ganze Welt anhaltend versetzte.

Der Direktor des Beethoven-Hauses in Bonn, Malte Boecker, steht hinter einem Stehpult und spricht in ein Mikrofon

Initiierte das Gesprächskonzert: Malte Boecker, Direktor des Beethoven-Hauses in Bonn

“Das Beethoven-Haus hat sich von Anfang an hinter die Ukraine gestellt und das Hilfsprogramm ‘Hope for Peace’ gestartet, um Künstler und Musikforscher zu unterstützen, die vor dem Krieg fliehen”, sagte Malte Boecker, Direktor des Beethoven-Hauses, der DW.

Als einer der Ersten wurde der ukrainische Starpianist Alexey Botvinov Gast des Residenzprogramms des Beethoven-Hauses. Gemeinsam mit dem polnischen Violinisten Janusz Wawrowski gestaltete Botvinov den musikalischen Teil des Abends. “Vor einem Jahr, als dieser barbarische Krieg wie eine Lawine über uns kam, fand nicht nur ich persönlich, sondern auch mein Festival eine neue, hoffentlich provisorische Heimat in Bonn”, so Botvinov im DW-Gespräch.

Der Pianist ist Gründer und mehrjähriger Intendant des Festivals “Odessa Classics” in seiner Heimatstadt am Schwarzen Meer. Während des Kriegsjahres fanden zahlreiche Veranstaltungen des Festivals nicht am angestammten Ort, dem Opernhaus von Odessa statt, sondern in Bonn und anderen europäischen Städten.

Blick in den Hof des Beethoven-Hauses in Bonn, links im Vordergrund ist eine Büste Ludwig van Beethovens im Anschnitt zu sehen

Mit Beethoven für die Ukraine: Im Hof des Beethoven-Hauses in Bonn

Europäische Verbrüderung

“Ich bin Malte Boecker sehr dankbar, dass er mit diesem Gesprächskonzert die Chance ergriffen hat, erneut an die Tragödie der Ukraine zu erinnern”, sagte Botvinov der DW. “Denn, so furchtbar der Krieg mitten in Europa ist, auch er gerät nach einem Jahr ab und zu an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung.”

Die Auswahl des Programms soll die europäische Solidarität unterstreichen. Deswegen nahmen Botvinov und Wowrowski neben den Werken der ukrainischen Klassiker Myroslav Skoryk und Valentin Silvestrov auch Pärts “Fratres” auf. “Das ist ein symbolisches Werk”, so Botvinov im DW-Gespräch. “Wie Brüder stellen sich die Völker Europas Schulter an Schulter neben das kämpfende Volk der Ukraine.”

Iryna Schum, Generalkonsulin der Ukraine, Musiker Alexey Botsvinov (li) und Alexander Graf Lambsdorff stehen beim Solidaritätskonzert für die Ukraine am 24.2.2023 im Beethoven-Haus Bonn nebeneinander

Schulter an Schulter: Iryna Schum, Generalkonsulin der Ukraine, Alexey Botsvinov (li) und Alexander Graf Lambsdorff

Auch Iryna Shum, Generalkonsulin der Republik Ukraine in Düsseldorf, hält nicht viel von der Floskel über die schüchternen Musen, die lieber schweigen, wenn Waffen sprechen. “In den ersten Tagen des Krieges hat eine junge Musikerin des Jugendorchesters der Ukraine in einem Keller eine Videobotschaft aufgenommen”, so Shum, sichtbar gerührt, in einer Ansprache ans Publikum nach dem Gesprächskonzert. “In dieser Videobotschaft sagte die junge Frau: ‘Ich weiß nicht, wie man einen Molotow-Cocktail macht. Aber ich kann Geige spielen. Das ist meine Waffe’.”