Andrej Kurkow ist einer der bekanntesten Autoren und Intellektuellen der Ukraine. Der ihm zugesprochene Geschwister-Scholl-Preis wird in Erinnerung an die Geschwister Hans und Sophie Scholl verliehen, die als Mitglieder der Organisation “Weiße Rose” gegen die Nazi-Diktatur aufbegehrten. Die DW sprach mit Andrej Kurkow über sein “Tagebuch einer Invasion” und den russischen Angriffskrieg auf sein Land.
Deutsche Welle: Herr Kurkow, am 28. November haben Sie in München den Geschwister-Scholl-Preis für Ihr Tagebuch bekommen. Wir gratulieren Ihnen zu dieser Auszeichnung. Schreiben Sie weiterhin daran?
Das “Tagebuch einer Invasion” von Andrej Kurkow ist in deutscher Sprache im österreichischen Haymon Verlag erschienen
Ich schreibe weiterhin – Geschichten von meinen Freunden, Kollegen und Menschen, um die ich mir heute Sorgen mache. Jetzt, während des Krieges, hat alles Materielle an Bedeutung verloren, und alles Emotionale und Menschliche ist 500 Mal wichtiger als früher. …Das Wichtigste ist, das Land und die Unabhängigkeit der Ukraine zu bewahren, das ukrainische Volk zu retten, damit andere Länder sie sich nicht einverleiben. Denn Ukrainer können mit ihrem Initiativgeist und ihrer Liebe zur Freiheit, jede Nation bereichern. Es ist wichtig, dass sie dies für die Ukraine tun und nicht für andere Länder.
Am Anfang Ihres Tagebuches denken Sie darüber nach, ob es Krieg geben wird. Das Ende des Buches wird von den realen Ereignissen bestimmt. Wenn Sie das Ende dieser unmenschlichen Geschichte schreiben könnten, wie würde das aussehen?
Wissen Sie, dieser Krieg dauert eigentlich schon 313 Jahre. Wir erleben jetzt nur die Fortsetzung der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709, als der russische Zar Peter I. den ukrainischen Kosakenhauptmann Iwan Masepa und den schwedischen König Karl XII., der ihn unterstützte, besiegte. Daher sprechen wir nur von 30-, 50- oder 70-jährigen Pausen. Von einem Ende des Krieges wird man dann sprechen können, wenn sich Russland ändert, wenn Russland keinen imperialen Status mehr anstreben wird und seine Arroganz gegenüber allen Völkern aufgibt, die einst in diesem Reich lebten.
Andrej Kurkow bei der Preisverleihung
Sie sprechen in Ihrem Buch von “Putins Krieg”, aber offenbar geht es nicht nur um Wladimir Putin.
Es geht nicht nur um Putin. Putin wurde von der russischen Gesellschaft erschaffen. An diesem Krieg haben beide gearbeitet, die russische Gesellschaft und Putin. Und gemeinsam haben sie Erfolge erzielt, bedingte Erfolge – in dem Sinne, dass sie diesen Krieg beginnen konnten.20 Jahre lang wurde Russland darauf vorbereitet, Kiew zu bombardieren und Ukrainer zu töten.
Noch sehe ich keine Anzeichen für Veränderungen in Russland. Zuerst haben die Andersdenkenden das Land verlassen, wodurch der Anteil derjenigen stieg, die Putin unterstützen. Jetzt haben diejenigen, die Putin unterstützen, aber nicht für seine Ideen sterben wollen, Russland verlassen. Somit nimmt der Anteil derer in Russland, die Putin unterstützen, nicht ab.
Solange die Situation so ist, muss man wissen, dass nicht nur die Ukraine in Gefahr ist. Russland wird den Krieg auf Pause setzen, um seine Raketenarsenale aufzufüllen. In Gefahr ist auch die Republik Moldau. Für Belarus spielt diese Bedrohung keine große Rolle, weil das Land nicht mehr unabhängig ist. Polen, Litauen, Lettland und Estland werden nur ruhig schlafen können, wenn Russland ein demokratisches, normales Land wird, das die internationalen Regeln sowie die Grenzen und die Souveränität der Staaten respektiert, die aus dem einstigen Warschauer Pakt hervorgegangen sind.
Sind Russen und Ukrainer Feinde auf Jahrzehnte, gar Jahrhunderte?
Nein, nicht für immer. Ich denke, es geht um ein bis zwei Generationen. Diesen Krieg kann man hinsichtlich seiner Folgen für die Beziehungen zwischen den Beteiligten mit dem vergleichen, was in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wird. 1972 war ich elf Jahre alt. Als ich in der vierten Klasse gefragt wurde, welche Fremdsprache ich lernen möchte, Englisch oder Deutsch, sagte ich, dass ich niemals Deutsch lernen würde, weil die Deutschen meinen Großvater umgebracht hätten.
Ich habe mit 36 Jahren angefangen, Deutsch zu lernen. Und jetzt bekomme ich einen deutschen Literaturpreis. Ich habe mich gerade mit meinen deutschen Freunden getroffen. Heute nehmen sie ukrainische Flüchtlinge auf und freuen sich über diese Gelegenheit, die vielleicht ein Versuch ist, die Schuld ihrer Vorfahren zu sühnen.
Der Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt hisst die ukrainische Flagge, um die Flüchtlinge willkommen zu heißen
Ich fürchte nur, dass Russland keine Gelegenheit dazu haben wird, dass es keine Generation geben wird, die die Schuld wird sühnen wollen. Denn dafür müssen die Russen erst den Imperialismus in sich selbst besiegen. Sie müssen ihre Sünden eingestehen und die kollektive Verantwortung für die Massaker an Ukrainern in Mariupol, Butscha und Hostomel, in Tschernihiw und so weiter anerkennen. Die Russen konnten sich noch nie für etwas entschuldigen. Es ist eine alte Kunst, Geschichte umzuschreiben und Niederlagen in Siege umzumünzen; in Russland beherrscht man sie seit langem, beginnend mit dem Fürsten Alexander Newski (Nationalheld Russlands aus dem 13. Jahrhundert, Anm. d. Red.).
Das Gespräch führte Marina Jung.