Fünf Jahre hat das 30-köpfige Expertenteam recherchiert. Nun glaubt es herausgefunden zu haben, wer Anne Frank und ihre Familie im August 1944 an die Gestapo auslieferte. Die Ergebnisse des Untersuchungsteams waren am Montag (17.01.2022) in niederländischen Medien zu lesen. Der jüdisch-niederländische Notar Arnold van den Bergh soll den deutschen Besatzern eine Liste mit Verstecken von Juden in Amsterdam übergeben haben, um das Leben seiner eigenen Familie zu retten. Darunter war auch die Adresse des Hinterhauses in der Prinsengracht in Amsterdam, in dem sich Anne Frank aufhielt.
Anonymer Brief lieferte wichtige Hinweise
Hauptbeweis sei die Kopie eines anonymen Briefes, den Annes Vater Otto Frank 1946 erhielt. Darin wurde der Name des Notars bereits genannt. Diese Spur sei zwar bekannt gewesen, so das Ermittlerteam, man sei ihr aber bisher noch nicht konsequent nachgegangen.
Der Notar Arnold van den Bergh war Mitglied des Jüdischen Rates, hatte daher viele Kontakte und war zunächst vor einer Deportation geschützt. Doch 1944 fiel dieser Schutz weg. Deshalb soll er in seiner Verzweiflung die Verstecke mehrerer jüdischer Familien verraten haben – in der Hoffnung, seine Frau, seine drei Töchter und sich selbst retten zu können.
Historiker äußern deutliche Kritik
Einen Tag nach Vorstellung der Recherche äußerten sich Historiker kritisch zu den Ergebnissen. Die Beweislage sei sehr dünn, sagte der Amsterdamer Professor für Holocaust- und Genozidstudien, Johannes Houwink ten Cate, der Tageszeitung “NRC Handelsblad”.
Es gebe keinerlei Beweise, dass der Jüdische Rat im Zweiten Weltkrieg Listen mit Adressen von Verstecken von Juden aufgestellt habe, “davon habe ich in 35 Jahren Forschung noch nie etwas gesehen”. Zu großen Anschuldigungen gehörten große Beweise, sagte Houwink ten Cate. “Und die gibt es nicht.”
Der Amsterdamer Historiker Ben Wallet sagte dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel”, es sei “mehr als fragwürdig”, eine Person “auf der Basis eines anonymen Schreibens des Verrats an Anne Frank und ihrer Familie anzuschuldigen”. Die Beweisführung der Rechercheure sei “wacklig wie ein Kartenhaus”. Sein Kollege Bart van der Boom von der Universität Leiden bezeichnete die Ergebnisse im “Spiegel” als “verleumderischen Unsinn”.
Die Lösung eines historischen Rätsels?
Der ehemalige FBI-Ermittler Vince Pankoke, der maßgeblich an der Untersuchung beteiligt war, hatte zuvor bereits eingeräumt, dass es 77 Jahre nach Kriegsende keine absolute Gewissheit gebe. “Unsere Theorie hat aber eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent”, sagte er dem Deutschlandfunk in einem Interview.

Im Versteck der Familie Frank befindet sich heute das Anne-Frank-Haus, ein Museum, das an die Judenverfolgung durch die Nazis erinnert
Ziel der Ermittlungen sei nicht gewesen, Anklage gegen jemanden zu erheben, sondern das historische Rätsel zu lösen, wer die Familie Frank an die Gestapo ausgeliefert habe. Nach dem Verrat im August 1944 deportierten die Nazis die Familie ins Konzentrationslager Auschwitz, am 30. Oktober 1944 wurde Anne gemeinsam mit ihrer Schwester Margot von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht. Dort wurde Anne Frank noch im selben Jahr ermordet. Einzig ihr Vater, Otto Frank, überlebte.
Versteck in den Niederlanden
Es war seine Sekretärin Miep Gies, die das Tagebuch von Anne Frank aufbewahrte und es Otto Frank nach Kriegsende übergab. Er widmete sich bis zu seinem Tod dem Vermächtnis seiner Tochter Anne und veröffentlichte 1946 die erste Ausgabe des Tagebuchs in Holländisch unter dem Titel “Het Achterhuis”. Eine erste deutsche Übersetzung folgte 1950. Schon 1960 hatte das Buch eine Weltauflage von mehr als 3,5 Millionen Exemplaren erreicht. Es ist noch heute eines der meistgelesenen Bücher der Welt.
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde am 18.01.2022 aktualisiert.