Ein sanftes Rauschen erfüllt den Ausstellungsraum im ersten Obergeschoss des Kölner Museum Ludwig. Unwillkürlich sieht man vor seinem inneren Auge, wie Wellen gleichmäßig an einen feinen Sandstrand gespült werden. Das Rauschen schwillt an und verwandelt sich in einen durchdringenden, aber warmen Ton. Er stammt von Pável Aguilar: “Schon als Kind habe ich gelernt, wie man diese Art von Muscheltrompete herstellt”, so der Musiker und Konzeptkünstler aus Honduras. “Man braucht eine präzise Technik, sonst ruiniert man sie. Und der Ton, den man hört, symbolisiert den Geist des Ozeans.”
Pável Aguilar lernte schon als Kind Muscheltrompeten zu spielen
Pável Aguilar ist einer der vier Künstlerinnen und Künstler aus Lateinamerika, die die aktuelle Ausstellung “HIER & JETZT – antikoloniale Eingriffe” im Museum Ludwig mitgestaltet haben. “Wenn eine Gesellschaft diverser wird, muss auch das Museum diverser werden. Eine Sammlung muss diverser werden, unterschiedliche Stimmen sollen gezeigt werden”, erklärt Kuratorin Joanne Rodriguez im Gespräch mit der DW. “Und damit beschäftigen wir uns mit unseren antikolonialen Eingriffen an unterschiedlichen Stellen im Museum.”
Einzelne “Eingriffe” sind als QR-Codes, über die man sich Videostatements auf das Smartphone laden kann, in der ständigen Sammlung verteilt. Aguilar hat zudem Güiras, Schrapinstrumente aus Lateinamerika, neben Werken einzelner Künstlerinnen und Künstler platziert. So etwa neben “Die Schlafenden” (1924) von Hermann Scherer. Die Holzskulptur wird dem Primitivismus zugerechnet, einer Kunstströmung, die heute durchaus umstritten ist: Westliche Künstlerinnen und Künstler orientierten sich Anfang des 20. Jahrhunderts an Kunst aus dem sogenannten Globalen Süden und versuchten, sich deren Stil anzueignen. Dabei waren sie der Auffassung, dass die vermeintlich ungebildeten Künstlerinnen und Künstler etwa aus Afrika und Ozeanien ihrem Instinkt und nicht dem Verstand folgten.
Umstrittenes Werk: “Die Schlafenden” von Hermann Scherer
Aber nicht nur in den ausgestellten Werken zeigen sich die Spuren der Kolonialzeit, sondern auch in der Geschichte des Museums. Darauf macht Paula Baeza Pailamilla (s. Titelbild) in einer Video-Performance aufmerksam, die sich mit Schokoladenproduktion beschäftigt. Denn Ausgangspunkt der Gründung des Kölner Museums war 1976 die Schenkung von 350 modernen Werken durch Peter und Irene Ludwig, deren Vermögen auf der Produktion und dem Vertrieb von Schokolade basiert. “Ich versuche immer, die Struktur der Dinge und der Institutionen zu hinterfragen”, so die chilenische Künstlerin, die in ihrem dreigeteilten Video die servile Haltung von “Schokoladenmaskottchen” aus der Werbung nachahmt und so die weiterhin bestehenden Missstände wie etwa Kinderarbeit in der Schokoladenproduktion anprangert.
Bestehende Machtverhältnisse sichtbar machen?
Noch deutlicher greift Daniela Ortiz in die Museumssammlung ein: Die peruanische Künstlerin orientiert sich an Max Ernsts Gemälde “Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Künstler” (1926). Sie stellt dem berühmten surrealistischen Bild die ganz reale Geschichte des neunjährigen kolumbianischen Jungen Jesús Ánder gegenüber, der, nachdem seine Eltern abgeschoben wurden, in einem spanischen Flüchtlingslager starb. “Jesús’ Tod wurde offiziell als Suizid bezeichnet, und seine Organe wurden ohne Einverständnis seiner nach Kolumbien abgeschobenen Eltern zur Spende freigegeben”, vermerkt Otiz neben ihrem Bild. Der kleine Jesús ist kein Einzelfall. Ortiz hat weitere Fälle von Kindern recherchiert, die von ihren abgeschobenen Eltern getrennt und in staatlich geführten Unterkünften in Europa misshandelt wurden.
Kuratorin Joanne Rodriguez (2.v.r) mit den Künstlern Pailamilla, Ayala und Aguilar
Alle vier Mitwirkenden verstehen sich nicht nur als Künstlerinnen und Künstler, sondern auch als Aktivistinnen und Aktivisten. Darauf deute auch der Titel der Ausstellung hin, erklärt Joanne Rodriguez: “Antikolonial wird immer wieder mit antikolonialem Widerstand in Zusammenhang gebracht.” “‘Dekolonial'” sei als Begriff zu schwach gewesen, so die Gastkuratorin. Man habe das aktive Handeln hervorheben wollen.
Was macht die Sammlung eines Museums aus?
Und so lädt Paloma Ayala für ihren Beitrag zum Selbstgestalten ein: Rund 650 Tonskulpturen, die sich alle auf Werke in der ständigen Sammlung beziehen, hat die mexikanische Künstlerin auf meterhohen Regalen platziert. Sie können herausgenommen und von den Besucherinnen und Besuchern selbstständig bearbeitet werden.
Diese Tonblöcke warten darauf, von den Besucherinnen und Besuchern verarbeitet zu werden
“Ich fordere die Menschen dazu auf, zu überdenken, was die Sammlung des Museums ausmacht. Was bedeutet sie? Was hat sie mit der Kolonialgeschichte zu tun? Und warum sollte es wichtig sein, Sammlungen wie die hier präsentierte aufrecht zu erhalten?”, so Ayala im Interview mit der DW. Nach und nach soll so eine neue Ausstellung innerhalb der Ausstellung entstehen. Nach Ende der Laufzeit werden die Werke nicht etwa weggeworfen, sondern zu neuen Stücken verarbeitet. Wem würden sie auch im bereits gut gefüllten Museumsdepot nützen?