Bei ihr geht es ab, wie einem Film. Sie kann ihn gar nicht stoppen. Nana ist 86. Und wenn sie schon vor dem Frühstück hört, wie Kiew angegriffen wird, da gehen die eigenen Bilder wieder los. Sie sieht sich, wie sie als Neunjährige um ihr Leben rennt. An der Hand ihre sechsjährige Schwester. Wie die Sirenen gehen, und sie schon wissen, dass sie einen Keller suchen müssen. Wie sie einen finden und die Treppen herunterrennen. Aber so viele andere auch. Panik. Alle schieben und drücken, die Schwester fällt, die Menschen trampeln … Nana kann den Satz gar nicht fertig machen. Tränen in den Augen. Es ist so lange her und es ist wie gestern.

Bis heute denkt sie tief in ihrem Herzen, dass sie etwas hätte anders machen müssen, dass sie ihre kleine Schwester vielleicht hätte retten können.

Sag mal einem Kinderherz, dass das nicht stimmt.

 

Wohin fliehen?

Bilder vom Krieg in Europa. Damals.

Und nun müssen wir sagen: Heute wieder.

Wieder sind es Menschen, die rennen. Wer kann, versucht im Auto aus Kiew zu fliehen und aus etlichen anderen Regionen. Und wenn es kein Benzin mehr gibt, zu Fuß. Männer, Frauen und Kinder.

Wohl denen, die wegkommen. Wohl denen, die wissen, wo sie hinkönnen.

Wo können sie hin?

Etliche Nachbarländer haben Hilfe signalisiert, auch Deutschland.

Es ist also jetzt an uns, die Türen aufzumachen.

Wer kennt jemanden hier aus der Ukraine? Das werden wohl die ersten sein, die den Anruf bekommen. Da kann man konkret helfen.

Hilfsorganisationen, wie Brot für die Welt, sind bereits in der Spur, zu helfen. Da können wir spenden.

Wir müssen nicht ohnmächtig die Bilder im Fernsehen sehen und die Berichte im Radio hören. Wir können etwas tun. Solidarität ist immer konkret.

 

Vor der Tür und dahinter

Denn auch dies erzählen die Kriegskinder immer wieder: Wie gut es war, wenn jemand die Tür aufgemacht hat, als sie mit nur einer Tasche vor dem Haus gestanden haben. Und sei es ein Dachboden gewesen, den jemand notdürftig hergerichtet hat. Hauptsache erst einmal sicher sein.

Wie gut es ist, wenn jemand den alten Satz im Ohr hat: „Die ohne Obdach führe ins Haus.“ (Jesaja 58,7). Der gilt und gilt.

Der Instinkt, die kleine Schwester retten zu wollen, der ist ja bei uns allen da. Der Instinkt zu helfen, wenn jemand in Not ist. Wir werden krank, wenn wir ihn unterdrücken.

Der, von dem dieser Satz kommt, der Prophet Jesaja, geht sogar noch weiter und sagt: Wer hilft, der wird selbst heil werden. (Jesaja 58,8)

Nana und ihre Mutter haben Hilfe gefunden. Irgendwann konnte sie wieder in die Schule gehen. Lernen. Und erwachsen werden – wenn auch mit einer großen Last. Und eine starke und dann auch wieder fröhliche Frau werden, die Kindern hilft.

Ulrike Greim, Weimar