Die Buchmacher haben es schwarz auf weiß: Kurz vor dem Finale des Eurovision Song Contests sehen die Wettanbieter das Kalush Orchestra mit weitem Abstand vorne. Oft ändern sich die Quoten während der Finalwoche des ESC, doch seit März schon sind die Ukrainer in den Wettbüros die unangefochtene Nummer Eins.

Vor dem Beginn des Ukraine-Krieges sah das noch anders aus. Da war das Kalush Orchestra einer von 40 Teilnehmern beim diesjährigen ESC – und lag in der Gunst des Publikums eher im oberen Mittelfeld. Wäre der Sieg der Ukraine beim ESC also eine Solidaritätsbekundung für ein Volk, das mit einem grausamen Krieg überzogen wird – oder sind die Band um den charismatischen Frontmann Oleh Psiuk und der Song “Stefania” so gut, dass sie den Titel verdient haben?

Rappen wie Eminem

Der 27-jährige Oleh Psiuk stammt aus der Stadt Kalush im Westen der Ukraine. Sein Vorbild war Eminem – und er wollte nichts anderes tun als rappen wie sein US-amerikanisches Idol. Dennoch studierte er in Kiew Forstwirtschaft, gründete aber schließlich 2019 zusammen mit dem Multi-Instrumentalisten Ihor Didenchuk, MC KilimMen und dem Tänzer und DJ Danyil Chernov seine Band Kalush. Die Musik lebte vor allem von Kooperationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern aus der Ukraine, und so wuchs ihr Bekanntheitsgrad im Land sehr schnell. Der Song “Додому” (“Nach Hause gehen”) mit dem Musiker Skofka wurde fast 23 Millionen Mal auf YouTube geklickt. Das Universal-Rap-Label Def Jam nahm sie unter Vertrag.

Kalush Orchestra, in Säcke und Taue gekleidet, in der Mitte Psiuk mit pinkem Hut und Folklore-Weste.

Mit dem pinkfarbenen Hut hat Oleh Psiuk einen hohen Wiedererkennungswert

Psiuks Markenzeichen sind sein rosafarbener Hut und die folkloristische Kleidung – damit gehört er zurzeit zu den bekanntesten jungen Musikern der Ukraine. 2021 gründete Psiuk ein weiteres Projekt: das Kalush Orchestra. Neu dabei sind die Multi-Instrumentalisten Tymofii Muzychuk und Vitalii Duzhyk. Sie sorgen mit ihren Instrumenten für noch mehr Folklore in der Band – und so war die Truppe für den Eurovision Song Contest komplett. Beim ukrainischen Vorentscheid waren sie zwar nur die Zweiten, doch durch die Absage der ursprünglichen Teilnehmerin Alina Pash wurden sie nachnominiert.

Proben in Kriegszeiten

Aufgrund des Krieges, der am 24. Februar in ihrem Land ausbrach, seien sie kaum in der Lage gewesen zu proben, erzählt Psiuk in einem Interview mit dem Magazin “Der Spiegel”. Sie hätten sich, wenn es ging, online zum Proben getroffen. Ansonsten hätten sie andere Dinge zu tun: “Unser MC KilimMen hat sich an der Territorialverteidigung von Kiew beteiligt. Und ich habe meine eigene Freiwilligenorganisation gegründet. Wir helfen bei der Unterbringung und dem Transport von Geflüchteten, mit Medizin und vielen anderen Dingen.”

Ukrainer feiern den Einzug ins Finale während des ersten Halbfinales beim ESC und schwenken ihre Landesflaggen.

Kalush Orchestra feiert im “Green Rom” den Einzug ins ESC-Finale

Jetzt werden sie nicht nur als Repräsentanten ihres Landes gesehen, sondern auch als Botschafter. Mit einer Sondergenehmigung ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durften sie ausreisen, um die Mission ESC-Sieg anzutreten. Bevor sie in Turin landeten, traten sie in mehreren europäischen Ländern auf – überall schlug ihnen eine Welle der Sympathie entgegen.

Ein Lied für die Mutter

Der Song “Stefania” ist vor dem Krieg entstanden – Psiuk hatte ihn seiner Mutter gewidmet. Doch vor dem Hintergrund des Krieges haben einige Zeilen aus dem Song unbeabsichtigt eine ganz andere Bedeutung bekommen: “Ich werde immer den Weg nach Hause finden, auch wenn alle Straßen zerstört sind.” Zudem empfinden viele Ukrainer ihr Land als ihre Mutter.

Das Lied beginnt mit folkloristischem Gesang, der dann in einen pulsierenden Rap auf ukrainisch übergeht und mit traditionellen Instrumenten begleitet wird. Solche Lieder kommen beim Eurovision Song Contest oft gut an und stechen aus den immer häufiger extra für den ESC gemachten Pop-Dance-Nummern heraus. Daher hätte das Kalush Orchestra auch ohne den traurigen Hintergrund durchaus Chancen auf eine gute Platzierung.

Neben dem Publikum entscheidet allerdings noch eine Jury über die Punktevergabe. Und die schaut genau auf die musikalische Qualität. Und da gibt es noch weitere hochwertige Acts, die am Samstag beim Finale oft die zwölf Punkte kassieren dürften. Da sind zum einen die Italiener, die mit Mahmood & Blanco zwei begnadete Sänger in den Wettbewerb geschickt haben. Ihre Ballade “Brividi” hat Chancen auf die Titelverteidigung, weitere Favoriten und Favoritinnen sind Sam Ryder aus Großbritannien, S10 aus den Niederlanden und Cornelia Jakobs aus Schweden.