“Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit” heißt ein Film von Alexander Kluge aus dem Jahr 1985. Ein typischer Kluge-Titel, in dem die philosophische Dimension seines Werkes anklingt. “Sein eigentlicher Acker”, ist auf der Homepage dieses kritischen Kopfes nachzulesen, “ist das 20. Jahrhundert, d.h. die Materie, die einer aus seiner Generation mit dem unmittelbaren Gefühl erreichen kann”.
Einer aus seiner Generation: Das ist jemand, der als Kind den Zweiten Weltkrieg durchlitt, der die Trennung Deutschlands und den Aufstieg der jungen Bundesrepublik miterlebte, die Studentenrevolte und die Terror-Anschläge der Roten-Armee-Fraktion und im fortgeschrittenen Alter die Wiedervereinigung. All diese Wendungen des Schicksals greift Kluge in seinem Werk immer wieder auf.
2007 bekam Kluge vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler das Bundesverdienstkreuz
Aus den Trümmern an die Uni
Alexander Kluge wurde am 14. Februar 1932 im sachsen-anhaltischen Halberstadt geboren. 1942 trennten sich seine Eltern. Für ihn und seine Schwester, verriet er einst dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel”, war “diese Scheidung schlagender und vernichtender als die Tatsache, dass unser Elternhaus bei dem Bombenangriff vom 8. April abbrennt”.
Damals, kurz vor Kriegsende, wurde seine Heimatstadt fast komplett zerstört. Für die Kinder waren die Trümmer ein Abenteuerspielplatz, immer wieder fand der junge Alexander Brauchbares wie Kaffee, Zigarren oder sogar eine Kiste Sekt. Hamsterware, die sich auf dem Schwarzmarkt gut verkaufen ließ. Sein Vater, erzählte er, lobte ihn dafür. “Für Klauen und Plündern gab es endlich mal eine positive moralische Bewertung”, stellt er Jahre später lakonisch fest.
Nach dem Krieg zog Alexander mit seiner Mutter nach Berlin, studierte ab 1950 in Freiburg, Marburg und Frankfurt am Main: Jura, Geschichte und Kirchenmusik. Mag das Thema seiner juristischen Doktorarbeit, “Die Universitäts-Selbstverwaltung”, noch so trocken klingen, wurde es während der Studentenrevolte 1968 hochpolitisch und relevant.
Mit Adorno (Foto) diskutierte Kluge über die als “Kritische Theorie” bezeichnete Denkrichtung
Lehre bei Adorno und Fritz Lang
Kluge ließ sich nach dem Studium 1958 als Rechtsanwalt nieder, erst in Berlin, dann in München: doch gleichzeitig begann er, Geschichten zu schreiben. Schon bald kreuzten gleich drei Geistestitanen des 20. Jahrhunderts seinen Weg: Kluge assistierte dem Philosophen Theodor W. Adorno, freundete sich mit dem Philosophen Jürgen Habermas an und volontierte beim legendären Film-Regisseur Fritz Lang (“Metropolis”).
Damit hatte Kluge den Weg von der Literatur zum bewegten Bild eingeschlagen und drehte erste Kurzfilme und Dokumentationen. Zudem gehört er zu den Initiatoren des einflussreichen “Oberhausener Manifests” von 1962. Darin forderten junge Filmemacher unter dem Titel ” Papas Kino ist tot!”, eine Erneuerung des deutschen Kinos und grenzte sich bewusst von den Heimatfilmen und Schnulzen der 1950er-Jahre ab.
Der “deutsche Godard”
Ein Anspruch, den Kluge einlöste: etwa mit dem Spielfilm “Abschied von gestern” von 1966, in dem seiner Schwester Alexandra die Hauptrolle übernahm – und für den er als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig erhielt. Kaleidoskopartig zeigt das Werk das Bemühen der in der DDR aufgewachsenen Jüdin Anita G., in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. “Ein Meilenstein des jungen deutschen Films”, urteilte die Presse damals. Und der Reclam-Filmführer schrieb: “Beabsichtigt ist nicht die gefühlsmäßige Anteilnahme des Zuschauers; er soll vielmehr am Beispiel dieses Schicksals Erkenntnisse über den Zustand unserer Gesellschaft gewinnen.”
Alexander Kluge (M.), seine Schwester Alexandra und Drehbuchautor Günther Mack feiern 1966 in Venedig ihren Silbernen Löwen
Zwei Jahre später gab es in Venedig für Kluges Werk “Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos” den Goldenen Löwen. Der Film lasse sich “als eine Absage an das Leistungsprinzip unserer Gesellschaft verstehen” und reflektiere gleichzeitig die politische Situation in der Bundesrepublik Deutschland, heißt es im Internationalen Filmlexikon. Der Regisseur bediene sich einer offenen Form, “die auf die geistige Beteiligung des Zuschauers setzt”.
Ähnlich hochgelobt wurde die aus fiktionalem und dokumentarischem Material gedrehte Satire “In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod” (1974). Im Ausland hat Kluge da längst den Beinamen “deutscher Godard”, denn genau wie der Franzose revolutionierte auch er den Film.
Analytisches Autoren-Kino
Sein Markenzeichen: die Montage von Bild- und Ton-Dokumenten mit inszenierten Spielszenen sowie präzise analytische Film-Essays. So wie im Kollektivfilm “Deutschland im Herbst” (1978) über den RAF-Terrorismus oder in “Der Kandidat”, einer Beobachtung des bayerischen CSU-Politikers Franz-Josef Strauß im Wahlkampf 1978.
Regisseur Alexander Kluge bei Dreharbeiten
Auch “Die Macht der Gefühle” von 1983 trägt Kluges typische Handschrift, für ihn ein Schlüsselfilm: “Die Auffassung einer Feindschaft von Verstand und Gefühl rührt daher, dass der Verstand in Verbindung mit den Dingen (= Gegenteil von Gefühl) als Steuermann die übrigen Gefühle als Motor missbraucht.” Dieser Konflikt zwischen Verstand und Gefühl treibe ihn in seinem gesamten Werk um, bekennt er auf seiner Homepage.
Zumindest vordergründig etwas aus der Reihe tanzen bei seine filmischen Werken die Science-Fiction-Parodien “Der große Verhau” (1971) oder “Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte” (1972). Über 30 Jahre später passt in diese Reihe der 1996 gedrehte Kurzfilm “Triebwerkhusten”, in dem zwei Ingenieure untersuchen, warum die Technik plötzlich von einer Grippeepidemie geplagt wird.
2008 wurde Kluge in Berlin mit der “Lola” für seine Verdienste um den deutschen Film geehrt
Zuletzt kehrte Kluge 2019 mit dem assoziationsreichen Film “Happy Lamento” ins Kino zurück. “Im Grunde genommen geht es bei diesem Film um elektrisches Licht, den Zirkus, den Song “Blue Moon” und Straßenkämpfe unter Kinderbanden im Norden Manilas – mit einer Wildheit, die normalerweise westlichen Augen nicht zugänglich ist”, erklärte er. Ein typischer Kluge-Film eben, der den Zuschauer zu Gedankenspielen einlädt.
Kluge, der Quotenschreck?
Eigentlich hatte sich Kluge Mitte der 1980er-Jahre vom Kino verabschiedet und sich als sein eigener Produzent etabliert. Er schlug einen Pflock in den gerade entstandenen Fernsehmarkt der Privatsender: Mit seiner Produktionsfirma DCTP (Development Company for Television Programs) sicherte er sich in dem sonst eher seichten Programm Sendezeit für Kultur- und Politik-Formate. Beziehungsweise “Quotenkiller”, wie Helmut Thoma, der damalige Chef des Privatsenders RTL, schimpfte. Kluge focht das nicht an, er führte mit seinen Gästen von 1988 bis 2018 in rund 3000 Sendungen lange tiefgründige Gespräche über Bücher, Musik, Filme und Theater.
Ansonsten hat sich Kluge seit Anfang des Jahrtausends wieder vorrangig aufs Schreiben verlegt. “Mein Hauptwerk sind meine Bücher”, bekennt er. “Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, das Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt.”
“Bildungsroman der Deutschen”
Auch auf literarischem Feld ist Kluge ein Meister seines Fachs und hat schon zahlreiche Preise eingeheimst: darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis seiner Heimatstadt Halberstadt. Mit seiner 2000 Seiten starken “Chronik der Gefühle”, brachte Kluge im Jahr 2000 sein Opus magnum heraus. Das Buch erzähle “in Lebensläufen und Geschichten von den Erfahrungen und vor allem den Gefühlen, mit denen wir auf Zeit, Epoche und deren Brüche reagieren”, schreibt sein Verlag Suhrkamp.
Zum 90. Geburtstag Kluges resümiert sein alter Weggefährte Jürgen Habermas, dass mit den gesammelten Werken seines Freund inzwischen so etwas wie ein Bildungsroman der Deutschen entstanden sei. Der noch nicht zu Ende ist. Denn auch mit 90 ist Kluges Schaffenskraft ungebrochen. In seinem Münchener Zuhause sitzt er am Schreibtisch und bringt seine Texte zu Papier. “Wenn ich schreibe, dann kommt die Geschichte aus der Spitze des Bleistifts, nicht aus der Absicht, etwas zu beschreiben. In mir sind dann Stimmen, die erzählen.” Vielleicht steckt hinter all dem eine aufklärerische Mission. In einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” sagte Kluge einmal: “Ich behaupte, dass ich, wenn ich sorgfältig arbeite, einen Nazi umdrehen könnte.”