Noch vor wenigen Jahren hieß das Stuttgarter Filmfestival “Bollywood and Beyond” (“Bollywood und alles darüber hinaus”): Es wurden vor allen Dingen Mainstream-Filme aus Indien gezeigt, Arthouse-Produktionen gab es nur am Rande zu sehen.
Aber die vielen aufwendigen Tanz-und-Sing-Filme wurden für die Organisatoren des Festivals langsam zu teuer.
“Bollywood, das kann man ganz klar so sagen, ist eine Riesenindustrie, und da konnten wir als kleines Festival in Stuttgart gar nicht mithalten”, so Hans-Peter Jahn, Pressesprecher des Indischen Filmfestivals. “Die Preise, die die großen Bollywood-Filme verlangen, hätten wir nicht bezahlen können, geschweige denn, dass wir überhaupt einen Star aus diesen Filmen hier in Stuttgart hätten präsentieren können.”
Ohnehin scheinen neue, engagierte Filmemacher dem Bollywood-Film den Rang abzulaufen, so Jahn. Glück im Unglück: Lockdowns in der Corona-Pandemie machten es großen Filmproduktionen zwar schwer, kleinere Low-Budgetfilme litten aber nicht so sehr – und fanden auf Streaming-Plattformen wie Amazon Prime und Netflix ein weltweites Publikum.
Die Underdogs wollen auf die Sonnenseite
Beim diesjährigen Festival laufen Filme aus beinahe jedem Teil Indiens. Ein Höhepunkt ist die Dokumentation “Writing with Fire” (“Mit dem Feuer schreiben”) von Sushmit Ghosh und Rintu Thomas.
Indien-Fans beim Filmfestival Stuttgart
Der Film handelt von Frauen, die die Provinzzeitung “Khabar Lahariya” (“Nachrichtenwellen”) im Norden Indiens betreiben. Für viele Menschen, die in dieser ländlichen Region leben, stellt die Zeitung die einzige unabhängige Informationsquelle dar. Für ihre Arbeit wurden die Herausgeberinnen der Zeitung beim Global Media Forum 2014 von der Deutschen Welle geehrt.
Die Angebotspalette des Festivals hat auch “Shankar’s Fairies” (“Die Feen von Shankar”) im Angebot. Regisseurin Irfana Majumdra erzählt hier die Geschichte einer Herrschaften-und-Diener-Beziehung über viele Generationen hinweg.
Bei “Tangra Blues” handelt es sich um ein Rap-Musical auf Bengali. Darin erzählen Slum-Kinder von ihren Träumen, eines Tages reich und berühmt zu werden.
In “Skater Girl” erzählt Regisseurin Manjari Makijany von ein Mädchen, das sich gegen die konservative Kultur in ihrem Heimatdorf auflehnt: Dort dürfen Frauen das Haus nicht verlassen und müssen früh heiraten.
Amitabh Bachchan ist in Bollywood seit Jahrzehnten ein Superstar – hier in eienr frühen Rolle in “Naseeb” (1981)
Ein weiterer Höhepunkt im diesjährigen Programm ist der Film “Jhund” (“Mob”, “Herde”), in dem der indische Bollywoodstar Amitabh Bachchan die Hauptrolle spielt. Der Film basiert auf dem Leben von Vijay Barse, der im westindischen Nagpur die gemeinnützige Organisation “Slum Soccer” (“Slum Fußball”) gründete.
Gandhi neu denken
Die Organisatoren des Festivals empfehlen als “Must-See” außerdem den Film “Adieu Godard” (“Lebwohl, Godard”). Es ist die Geschichte eines Mann in einem Dorf in Bengalen, der Abend für Abend Pornos schaut. Eines Tages leiht er sich aus Versehen ein Video über den französischen Regisseur Jean-Luc Godard aus und entdeckt so seine Leidenschaft für dessen Arthouse-Filme. Als der Mann vorschlägt, im Dorf ein Godard-Filmfestival zu veranstalten, sorgt das nicht nur für Verblüffung, sondern auch für einige Kontroversen. Regie führte Amartya Bhattacharya.
In Manish Sainis Film “Gandhi & Co” wird die kulturelle Bedeutung Mahatma Gandhis unter die Lupe genommen. Auch aus Südindien werden Filme gezeigt, zum Beispiel “Kasiminte Kadal” von Regisseur Shyamaprasad. Darin muss ein Jugendlicher mit seinem todkranken Vater in eine Kleinstadt am Meer ziehen. “Karma Café” von Vinod Bharathan handelt von einem Mann, der aus dem Ausland nach Indien zurückkehrt und in der alten Heimat wieder Fuß fassen muss.
In der Rubrik Kurzfilme wird “Bedsores” (“Wundliegen”) gezeigt, eine Dokumentation über die Menschen des Banchhada-Stammes in Zentralindien, bei denen die Geburt eines Mädchens als Zeichen des Glücks gewertet wird.
“Cheepatakadumpa” von Devashish Makhija begleitet drei männliche Freunde, die offen über ihr Sexleben sprechen.
Am 24. Juli endet das Festival. An diesem Tag wird die Jury die Gewinner in drei Kategorien bekanntgeben, nämlich Bester Film, Beste Dokumentation und Bester Kurzfilm. Auf die erste Kategorie ist ein Preisgeld von 4000 Euro ausgelobt, auf die anderen beiden jeweils 1000 Euro.
Ehrung für indische Kuratorin
Das Indische Filmfestival Stuttgart wird vom Filmbüro Baden-Württemberg organisiert und findet einmal im Jahr statt. Hauptsponsor ist Andreas Lapp, Geschäftsmann und ehrenamtlicher Honorarkonsul für die Republik Indien für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In diesem Jahr ehren die Organisatoren außerdem die Kuratorin des Festivals, Uma da Cunha, die in Mumbai lebt und schon seit beinahe zwei Jahrzehnten Filme für das Programm zusammenstellt.
Die Kuratorin Uma da Cunha (l.) und ihr Mann Gerson da Cunha
Uma da Cunha wird am 20. Juli die Staufer-Medaille des Landes Baden-Württemberg erhalten, übergeben wird sie von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Seit den späten 1970er-Jahren hilft da Cunha dabei, indische Filmfestivals im Ausland zu organisieren, unter anderem in Toronto und Busan. Außerdem ist sie beratendes Gründungsmitglied der Indischen Filmfestivals in Los Angeles, London, Den Haag, Montréal und Houston.
Sie ist außerdem eine prominente Casting-Chefin und wirkte an Filmen wie Jane Champions “Holy Smoke”, Deepa Mehtas “Water” und Ashutosh Gowarikars “Lagaan” mit. 2009 fungierte sie bei den Filmfestspielen in Cannes als Jurorin in der Nebenkategorie “Un Certain Regard” (“Ein bestimmter Blick”).
Adaption aus dem Englischen: Christine Lehnen.