Auch mit 80 Jahren ist er noch der berühmteste Investigativjournalist Deutschlands. Seit einem halben Jahrhundert schon schleust sich Günter Wallraff mithilfe seiner Maskenbildner bei Großkonzernen, in Fabriken und Medienhäusern ein, um Missstände aufzudecken und sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Auf den Ruhestand hofft er nicht – im Gegenteil: Günter Wallraff bereitet sich gerade auf seine nächste “Undercover”-Recherche vor.
Geboren am 1. Oktober 1942 in Burscheid bei Köln, machte Wallraff zunächst eine Ausbildung zum Buchhändler. Berühmt wurde er durch seine Reportagen “Der Aufmacher” (1977) und “Ganz Unten”, das 1985 zum ersten Mal in Buchform erschien und 22 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand. Maskiert als türkischer Gastarbeiter “Ali” arbeitete Wallraff im Stahlwerk Thyssen-Krupp in Duisburg, bei McDonald’s, in einem Kernkraftwerk und als Kanalarbeiter.
Der erfolgreichste Sachbuchautor Deutschlands
Dabei dokumentierte Wallraff detailgenau die menschenverachtenden, teils lebensgefährlichen Bedingungen, denen sich Ali ausgesetzt sah. Während seine deutschen Kollegen Schutzkleidung bekamen, musste er bei Minusgraden ohne auskommen, wurde hohen Strahlungen im Kernkraftwerk ausgesetzt und musste sich von deutschen Kollegen mit “Deutschland den Deutschen” und “Türken raus” beschimpfen und demütigen lassen. Im Nachwort der kürzlich erschienenen erweiterten Neuauflage beschreibt Mely Kiyak Wallraffs Reportage als “Erkundungen in die Randgebiete der deutschen Skrupellosigkeit”.
Die Veröffentlichung des Buches zog mehrere Klagen nach sich, es erschienen immer wieder überarbeitete Neuauflagen in seinem Verlag Kiepenheuer & Witsch. Inzwischen wurde das Buch mehr als fünf Millionen mal verkauft, so der Verlag. Übersetzungen erschienen in 40 Ländern. Es ist eines der erfolgreichsten Sachbücher in deutscher Sprache.
Es wurde verschiedentlich kritisiert, weil es “den türkischen Gastarbeiter” als Klischee darstelle: ein Mann ohne nennenswerte Ausbildung, der nur im Niedriglohnsektor arbeiten kann. Wie Mely Kiyak – selbst Tochter eines türkischen Gastarbeiters und Autorin von “Frausein” – im Nachwort anmerkt, handelt es sich bei “Ganz Unten” aber auch gar nicht um ein Buch über Menschen aus der Türkei, sondern über die deutsche Gesellschaft. Es gehe nicht um Ali, sondern um “die Ausbeuter-Alfreds da oben und in der Mitte und auch da unten”.
Seit “Ganz Unten” erschien, recherchierte Wallraff immer wieder in prekären Arbeitsmilieus, etwa bei Paketboten oder im Callcenter
Er veränderte die Gesellschaft der BRD
Die Veröffentlichung der Reportage führte zu einem Umdenken in der westdeutschen Gesellschaft, auch der Arbeitsschutz wurde verbessert, ThyssenKrupp stellte infolge der Reportage viele Leiharbeiter fest ein. Ein ähnlicher Coup war Wallraff schon einmal gelungen: Mit “Der Aufmacher”, seinen Reportagen über die Methoden der”Bild”-Zeitung, die bereits Ende der 1970er-Jahre zum Bestseller avancierten.
Daraus erwuchs ein Rechtsstreit, der Journalistinnen und Journalisten bis heute das gesetzlich verbriefte Recht auf “Undercover”-Ermittlungen zusichert. “Es gilt seitdem die so genannte ‘Lex Wallraff'”, erläuterte Wallraff kürzlich gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger in einem Interview. “Wenn es um gravierende Missstände geht, hat die Öffentlichkeit ein Recht, darüber informiert zu werden, auch wenn dies unter Identitätswechsel oder Täuschung zustande gekommen ist.”
Mit seinen Kolleginnen und Kollegen vom “Team Wallraff”, ausgestrahlt vom Privatsender RTL, ist Wallraff noch immer als Investigativjournalist tätig. Erst kürzlich gewannen sie den Deutschen Fernsehpreis.
Der Mann, der Salman Rushdie Unterschlupf bot
Auch für seine Kolleginnen und Kollegen setzte er sich stets ein: 1993 bot er dem britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie Unterschlupf, nachdem dieser durch eine Fatwa des iranische Revolutionsführers Ajatollah Chomeini quasi zum Tode verurteilt worden war und untertauchen musste. Ohne Personenschützer konnte Rushdie, Autor des vom Ayatollah geächteten Romans “Die Satanischen Verse”, das Haus damals nicht verlassen.
Aziz Nesin, Günter Wallraff und Salman Rushdie (v. l. n. r.) auf einer Bootsfahrt auf dem Rhein im Jahr 1993
Bei Günter Wallraff in Köln schlief er erst im Gartenschuppen und dann im Dachgeschoss. Als Wallraff und Rushdie seinen Personenschutz in der Kleinstadt Unkel einmal abschüttelten, nahm ein arabisch-stämmiger Kellner Rushdie beiseite und riet ihm zu größerer Vorsicht, so berichtet es der SWR. “Ich könnte mir jetzt die Millionen abholen”, habe der Kellner gesagt – das Kopfgeld, das vom Iran auf Rushdie ausgesetzt worden war.
Nach dem Anschlag auf Salman Rushdie im Jahr 2022 zeigte sich Wallraff schockiert – und forderte, seinem alten Freund endlich den Literaturnobelpreis zu verleihen. Die Reaktionen auf den Angriff stimmen ihn derweil zuversichtlich, “dass es eine breite demokratische Gegenöffentlichkeit gibt, die für die Freiheit einsteht und durch diese Tat eher noch gestärkt wird”, so Wallraff nach dem Anschlag gegenüber der DW.
Kaum Zeit zum Feiern
Beim Einsatz für die Kollegen, Recherchevorbereitungen und dem Verfassen seiner Autobiografie bleibt allerdings nicht viel Zeit zum Feiern, nicht einmal zum runden Geburtstag. “80 zu werden, hätte ich nie für möglich gehalten”, sagte Wallraff dem Kölner Stadt-Anzeiger. Zurzeit arbeite er an seiner Autobiographie, außerdem bereite er sich auf eine weitere Recherche vor. “Ich habe noch was vor. Zwei Jahre – vielleicht auch drei Jahre brauche ich noch”, so Wallraff. “Und wenn es ein Jahr ist, dann muss ich mich beeilen. Ich bereite noch eine neue Rolle vor und hoffe, dass es gelingt!”
“Ganz Unten” und “Aufmacher” sind am 8. September 2022 in erweiterten Neuausgaben im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.