Traditionell passiert “das erste Mal” bei den meisten Menschen im Nahen Osten erst in der Hochzeitsnacht. “Für viele Frauen ist das auch das erste Mal, dass sie überhaupt nackt vor einem anderen Menschen stehen, das erste Mal, dass sie einen Penis in echt sehen”, erklärt Nour Emam aus Ägypten der DW. Sie leitet Online-Aufklärungskurse und unterhält einen Instragram-Kanal unter dem Namen
thisismotherbeing für Frauen aus dem Nahen Osten.
Man muss wohl kein Psychologe sein, um zu erahnen, dass das nicht gerade zu entspannter Romantik und Intimität beiträgt. Genau deshalb bietet Emam Kurse speziell für Frauen an, die kurz vor ihrer Hochzeit stehen. “Wir zeigen ihnen ganz genau alle Körperteile, auf die es ankommt, und ermutigen sie, offen mit ihrem Partner darüber zu sprechen, bevor sie den Bund der Ehe schließen”, erklärt Emam. Sie ist überzeugt: Die Bedürfnisse beider Partner müssen berücksichtigt werden. “Jahrelang bekommen die Mädchen eingebläut, dass Sex etwas Schmutziges sei. Deshalb sind sie verängstigt und schlichtweg nicht bereit für die Penetration während der Hochzeitsnacht”, erklärt sie. “Auf der anderen Seite können es die jungen Männer kaum erwarten, endlich ihre Pornofantasien auszuleben, jetzt, wo sie endlich Sex haben dürfen”. Doch statt irgendwelcher Pornostars treffen die Männer im Ehebett dann doch auf ganz normale Frauen.
Realität versus Fantasie
“Uns kommen viele Geschichten von Männern zu Ohren, die sich bei Frauen in der Hochzeitsnacht über deren Aussehen beschwert haben”. Pinke Vulven seien das Schönheitsideal. “Aber, und das sage ich den Frauen, wie sollen sie dieses Ideal erfüllen? Eine eher bräunliche Haut haben und unter der Gürtellinie gleichzeitig pink aussehen?”
Nour Emads englischsprachiger Instagram-Kanal ist extrem erfolgreich
Es scheint, als hätten Emams Onlinekurse einen echten Nerv getroffen: In den nicht öffentlich abgehaltenen Onlinekursen hat sie bislang rund 2000 Frauen unterrichtet. Es ging beispielsweise um Menstruation, Verkrampfungen der Beckenbodenmuskulatur (Vaginismus) oder um sexuell übertragbare Krankheiten. Emams Social-Media-Kanäle haben rund 1,4 Millionen Follower innerhalb des vergangenen Jahres hinzugewonnen, besonders bei TikTok.
Sexuelle Aufklärung bislang verpönt
In der Öffentlichkeit über Sexualität aufzuklären – bislang eine extreme Seltenheit in den Ländern des Nahen Ostens. In Ägypten hat sich eine harte Gegnerschaft ausgebildet, die sowohl Profis aus dem Gesundheitswesen als auch Gesellschaftsexperten umfasst. Alles, worin das Wort “sexuell” auch nur vorkäme, sollte in kulturell stärker akzeptierten Worten umschrieben werden, sagen die Gegner. “Reproduzier-Gesundheit” oder “menschliche Entwicklung” etwa seien bessere Umschreibungen für alles rund ums Thema Sex. Viele ägyptische Familien sind überdies bis heute davon überzeugt, dass sexuelle Aufklärung eigentlich mit sexueller Freizügigkeit gleichzusetzen sei. Wer Kindern sexuelle Aufklärung zukommen ließe, würde so Sex vor der Ehe propagieren, so die Kritik.
Ein besonders negativer Effekt davon: Sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV/AIDS werden ebenfalls tabuisiert, trotz steigender Prävalenz.
Schutzräume für sexuelle Aufklärung
Nour Emad aus Ägypten ist nicht die Einzige, die sich für sexuelle Aufklärung stark macht. Auf Instagram sehr beliebt ist der Kanal “Niswa”
(Arabisch für “Frau”). Gegründet hat ihn Zainab Alradhi aus Saudi-Arabien. Den Kanal haben rund 60.000 User abonniert.
Eine pan-arabische Initiative ist
“Mauj” (Arabisch für “Wellen”), betrieben wird die Seite von Frauen aus dem Libanon, Saudi-Arabien und Ägypten. Eine Seite von arabischen Frauen für arabische Frauen mit rund 65.000 Followern. Deemah Salem, Frauenärztin aus Dubai, will ebenfalls zur sexuellen Aufklärung beitragen: “ich habe es zu meiner Mission gemacht, modernen Mythen zu entzaubern”, sagte sie dem Onlineportal Arab News. Ihr Instagram-Kanal hat 18.000 Abonnenten.
“Selbstbewusstsein macht sexy”: Einer der Claims von @thisismotherbeing
Tunesien macht den Anfang
Tunesien hat derweil als erstes arabisches Land offiziell ein Pilotprojekt auf den Weg gebracht, das sich für Aufklärung stark macht. Das war 2019. In Zusammenarbeit mit dem UN-Bevölkerungsfonds und dem Arabischen Institut für Menschenrechte haben öffentliche Schulen seitdem begonnen, Sexualkunde in ihren Lehrplan aufzunehmen. “Dazu musste man ja nun wirklich nicht das Rad neu erfinden”, sagt Habiba Abdelaal vom Tahrir Institut für Nahostpolitik mit Sitz in Washington, DC, eine Expertin für sexuelle und geschlechterspezifische Gewalt in Ägypten.
Die vielen kleinen, privaten Engagements für sexuelle Aufklärung sieht und schätzt sie. Um dem Thema zum Durchbruch zu verhelfen, müssten jetzt aber profundere, öffentliche Initiativen her: “Schulen müssen von der Politik dabei unterstützt werden. Wir brauchen angemessene Inhalte und geschulte Lehrer”. Zuletzt wäre laut Abdelaal noch eins wichtig: Aufgeklärte Eltern und aufgeklärte Kommunen – damit der “Sexuelle Analphabetismus” ernsthaft bekämpft werden kann.
Dieser Text wurde von Friedel Taube aus dem Englischen adaptiert.