Es hat lange gedauert, bis sich Österreich zu einer neuen Darstellung seiner Geschichte im “Dritten Reich” entschied. “Die Zeit musste erst reifen”, meint Hannah Lessing, Generalsekretärin des österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus, bei der Eröffnung der neuen Länderausstellung Österreich in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau am 4. Oktober 2021. 

In der vorherigen, 1978 konzipierten Schau in der Gedenkstätte hatte Österreich seine Rolle noch als “erstes Opfer von Hitler” definiert. Eine mehr als unzureichende Darstellung, wie auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka bei der Eröffnung betont: “Die Darstellung der Täterschaft, Mittäterschaft, Mitläuferschaft blieb in vorangegangenen Ausstellungen – und besonders in dieser Ausstellung – weitgehend unthematisiert”, so Sobotka. “Die Täter werden hier nun ins Licht gerückt.”

“Ostmark” als Teil von Nazi-Deutschland

“Österreich hat die Besonderheit, dass es Teil des Deutschen Reiches war”, sagt Historikerin Heidemarie Uhl. “Somit ist es – abgesehen von Deutschland – das einzige europäische Land mit einer expliziten Täter-Geschichte.” Nach dem “Anschluss” Österreichs am 12. März 1938 war das heutige Staatsgebiet Österreichs unter dem Namen “Ostmark” in den nationalsozialistischen Staat integriert worden. 

Eröffnung der neuen österreichischen Länderausstellung ENTFERNUNG – ÖSTERREICH UND AUSCHWITZ

Die neue Länderausstellung Österreichs im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau

Die Österreicher waren nun Staatsbürger des Deutschen Reiches, nicht wenige beteiligten sich aktiv an der Aggressions- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges und der Ausrufung der Unabhängigkeit Österreichs am 27. April 1945 spielte die österreichische Herkunft jedoch wieder eine Rolle.

Opfermythos und Identität in der Zweiten Republik

Schon bei der Unabhängigkeitserklärung berief man sich auf die Moskauer Deklaration von 1943. Öster­reich wurde dort tat­säch­lich als “erstes Opfer der typi­schen An­griffs­politik Hitlers” be­zeich­net. Gleich­zeitig war aber fest­ge­halten, dass Öster­reich “für die Teil­nahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutsch­lands eine Ver­ant­wortung trägt, der es nicht ent­rinnen kann, und dass an­läss­lich der end­gültigen Ab­rech­nung Be­dacht­nahme da­rauf, wie viel es selbst zu seiner Be­freiung bei­ge­tragen haben wird, un­ver­meid­lich sein wird.” 

Schaufenster eines Modehauses in Klagenfurt mit dem Hinweis 'Wegen Arisierung geschlossen'.

Nach dem Anschluss wurde die Judenverfolgung in Österreich sehr schnell umgesetzt

Trotzdem stilisierte Österreich sich zum ersten Opfer Hitlers. Dieser Opfermythos wurde bei den Staatsvertragsverhandlungen von 1955, nach denen Österreich die volle Souveränität wiedererlangte, und bei Restitutionsdebatten genutzt – und diente nicht zuletzt der moralischen Entlastung der österreichischen Bevölkerung. Ernsthafte Auseinandersetzungen mit der Nazi-Vergangenheit und Antisemitismus wurde so über Jahrzehnte unterbunden. Noch bis ins 21. Jahrhundert hinein stritten sich zentrale Vertreter von Politik und Geschichtswissenschaft um die genaue Quantifizierung des österreichischen Anteils an den NS-Verbrechen. 

Mangelndes Unrechtsbewusstsein

Für das einsetzende Umdenken war die sogenannte Waldheim-Affäre von 1986 entscheidend: Kurt Waldheims Karriere begann 1947 in der christlich-konservativen Partei ÖVP, später wurde er Außenminister und schließlich Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als er 1986 für das Amt des öster­reichi­schen Bundes­präsidenten kandidierte, publizierte das Nachrichtenmagazin “profil” Recherchen zu Waldheims NS-Vergangenheit, unter anderem auch seine Wehrmachtskarte. In seiner Biografie hatte Kurt Waldheim verschwiegen, dass er 1942 in Griechenland an der Deportation jüdischer Menschen beteiligt gewesen war.

Kurt Waldheim ehemaliger Präsident Österreich

Kurt Waldheim, österreichischer Bundespräsident von 1986 bis 1992

Mit Aussagen wie “Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hundert­tausende Öster­reicher auch, näm­lich meine Pflicht als Soldat erfüllt”, zeigte Waldheim einen un­sen­siblen Um­gang mit seiner Ver­gangen­heit. 1987 wurde Waldheim etwa vom US-amerikanischen Justiz­minis­terium auf die “Watch­list” ge­setzt. Das be­deu­tete, dass er als Privat­person bis zur Ent­kräftung der Vor­würfe gegen ihn nicht mehr in die Ver­einig­ten Staaten ein­reisen durfte.

Eine von Waldheim selbst angeregte Historikerkommission konnte zwar keine direkte Be­teili­gung oder Mit­täter­schaft nach­weisen, stellte aber fest, dass Wald­heim – ent­gegen seiner Aus­sagen – von den Kriegs­ver­brechen am Balkan gewusst haben musste. Darauf­hin forderte Simon Wiesen­thal, Gründer des Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, Wald­heims Rück­tritt. Doch Wald­heim blieb im Amt, auch wenn die Kritik nie verstummte und die inter­natio­nale Iso­la­tion anhielt. Die Affäre machte offenbar, dass sich Österreich mit der eigenen national­sozia­listi­schen Ver­gangen­heit nicht aus­ein­ander­gesetzt hatte. Der um­strittene Bundes­präsident polari­sierte die Gesell­schaft und wirkte so als Katalysator für eine öffent­liche Dis­kus­sion über den Opfer­mythos.

Anschluss Österreichs an Nazideutschland | Wien | Heldenplatz | Triumphmarsch | Rede Hitler

Unliebsame Erinnerung: Begeisterte Massen beim Anschluss Österreichs 1938 in Wien

Mit Druck von Innen und Außen

Nach der Wende setzte sich in Österreich Stück für Stück die politische Überzeugung durch, dass die Anerkennung und Aufarbeitung des Unrechts im “Dritten Reich” zur Staatsräson eines europäischen Staates gehören müsse. Wichtiger Meilenstein war die Rede von Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991, in der er sich vor der Abgeordnetenkammer des Parlaments zur Mitschuld der Österreicherinnen und Österreicher am Zweiten Weltkrieg und deren Folgen bekannte. Für die gründliche Aufarbeitung des Raubes von jüdischem Eigentum wurde 1998 eine Historikerkommission beauftragt, die ihren 49-bändigen Schlussbericht 2003 vorlegte. Diskussionen im Innern waren für den Prozess genauso wichtig wie Druck von Außen. 

Besonders schwer tat sich damit die rechtsgerichtete FPÖ, die zwischen 2000 und 2005 sowie von 2017 bis 2019 an der Regierung beteiligt war. Immer wieder fielen FPÖ-Politiker aufgrund von antisemitischen Entgleisungen auf. “Inzwischen hat die FPÖ die Strategie geändert”, kommentiert Historikerin Heidemarie Uhl. “Positionen zu äußern, die sich gegen das Gedenken richten, das geht nicht mal mehr in der FPÖ.”

Lokal herausfordernd

Insgesamt kann nicht von einem gradlinigen oder konstanten Prozess gesprochen werden. Kritisch wurde zum Beispiel das “Jubiläumsjahr 2005” gesehen. Während in Europa die Be­freiung von der NS-Herr­schaft und das Jahr 1945 im Zentrum standen, feierte man in Öster­reich die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik.

junge Frau betrachtet das Portrait einer Holocaust-Überlebenden in der Strasse von Wien

Portraits von Überlebenden wurden bei der Ausstellung “Gegen das Vergessen” 2019 in Wien mehrfach geschändet

Gesamthaft gesehen wird zwar der politische Wille zur Auseinandersetzung – besonders in den vergangenen Jahren – deutlich, die großen Herausforderungen liegen aber darin, in die tiefen Schichten der Gesellschaft vorzudringen. “Wo es die emotionalen und generationenübergreifenden Bindungen gibt, da können große Spannungen entstehen zwischen dem nationalen Bekenntnis zur Aufarbeitung und persönlicher oder institutioneller Täterschaft”, so Historikerin Heidemarie Uhl. 

Entfernung und Wiederannäherung

Die österreichische Länderausstellung in der Gedenkstätte, die zehn Jahre lang historisch überarbeitet wurde, trägt den Titel “Entfernung”. Das weist nicht nur auf die geografische Distanz zwischen Österreich und Auschwitz hin, sondern vor allem darauf wie Juden aus der Gesellschaft entfernt, deportiert, vergessen, verdrängt, vernichtet wurden. “Die Ausstellung ist eine ganz wichtige Markierung, dass Österreich sich mit seiner Vergangenheit auseinander gesetzt hat”, meint Uhl.

Bahnlinie zum Tor des Konzentrationslagers Auschwitz

Torhaus von Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Doch diese Erinnerung immer wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen, bleibt für die Historikerin die vordringliche Aufgabe. “Um es mit dem deutschen Historiker Volkhard Knigge zu sagen: Diese Zeit muss eine Selbstirritation bleiben. Für jede Generation aufs Neue.” Dieser Appell muss für Deutschland und Österreich gleichermaßen gelten.