“Ich bin Muslima, okay. Aber ich bin auch Sängerin!” Sadiqa Madagar schaut selbstbewusst in die Kamera. Was ist in die Biographie der erst 24-Jährigen schon alles eingeschrieben: Ihre Familie entrinnt dem Krieg in der südafghanischen Provinz durch den Gang ins pakistanische Exil. Aber da Sadiqa ihrer Leidenschaft, der Musik, folgen will, verlässt sie die konservativen Eltern und geht allein nach Kabul.
Dort wird sie mit smart auf Popformat gebrachter Volksmusik zum TV- und Youtube-Star, begeistert sich für Kampf- und Radsport. Als die Taliban Ende August wieder die Macht übernehmen, schwebt sie in akuter Lebensgefahr. Ende September gelingt ihr die notgedrungene Flucht aus dem Land, das sie so liebt. Fast erschütternd ist ihr lebensbejahendes “Trotzdem”: “Wenn wir die Herausforderungen nicht akzeptieren, warum leben wir dann überhaupt? Wir sind es, die die Welt erschaffen”, sagt sie.
Unerschrocken ihren Traumata zu trotzen, ist eine tägliche Herausforderung für Sadiqa. So wie für acht weitere Sängerinnen, deren Geschichten die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, Andreas Rochholl, in sehr persönlichen Porträts eingefangen haben. Es sind Porträts, die durch die aktuellen Ereignisse kurz nach den Dreharbeiten im Juli eine zusätzliche dramatische Dimension bekommen haben.
Auf eigenes Risiko nach Afghanistan
Fünf Jahre lang hatte Musikethnologin Yazdani über Frauenstimmen im Iran gearbeitet, mit Rochholl hat sie einen Dokumentarfilm und zwei Bühnenfestivals in Berlin organisiert. “Dann kam der Punkt, an dem ich den Blick über meine Heimat hinaus richtete. Afghanistan ist das Nachbarland, aber ich war nie dort”, erzählt sie. “Ich wurde neugierig auf die Frauen dort: Wer sind sie? Wie klingt ihre Musik? Alles, was uns von Kindheit an im Iran eingebläut wurde, war: Das ist kein sicheres Land, geht da nicht hin.”
Die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, Andreas Rochholl, in Kabul
Ähnlich sah auch die Vorgabe des Auswärtigen Amtes aus, die eine Recherche vor Ort und Reisen von afghanischen Künstlerinnen nach Deutschland vom Förderetat ausschlossen. “Von Anfang an hatten wir also zwei starke Limitierungen”, sagt Rochholl. “Die Unmöglichkeit eines realen Festivals und die Corona-Pandemie. Wir mussten auf eigenes Risiko nach Afghanistan reisen, um die Menschen dort kennenzulernen, und dann um eine neue mediale Form abseits des klassischen Kinofilms ringen, damit wir das Resultat präsentieren konnten.”
In den Regionen, die sie erkunden konnten – Kabul, die Provinzen Bamyan und Herat – trafen sie auf eine ungeheure kulturelle Vielfalt, bedingt durch die geographische Lage des Landes: In afghanischer Musik hört man neben den lokalen Eigenheiten indische genau wie persische Einflüsse, auch die musikalischen Farben der Turkvölker sind präsent. Kontakte stellte Yazdani über viele Telefonate und die sozialen Medien her.
Eine Generation des Umbruchs in Afghanistan
Sie stieß auf Sängerinnen, die schon lange etabliert waren und Berühmtheit bei der älteren Generation genießen. “Aber da waren auch sehr junge Musikerinnen, in deren Stimme eine tiefe Leidenschaft liegt. Sie sind während der letzten 25 Jahre aufgewachsen und haben ein Afghanistan im Umbruch erlebt. Vor allem diese Generation interessierte mich. Das Ziel unseres Projekts ist es, das Menschliche in den individuellen Lebensgeschichten zu zeigen. Erst danach kommt der Gesang, der sich darauf bezieht.”
Da ist etwa Freshta Farokhi aus der Provinz Bamyan, mit ihren 20 Jahren schon eine herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara, die bei großen Festivals in gemischten Ensembles sang. Diese Festivals sind nun nicht mehr möglich, früh haben die Taliban Bamyan zurückerobert. Freshta Farokhi sorgt sich nun, dass alle Anstrengungen vergangener Jahre für die Frauen und für ihre Musiker umsonst waren, sie muss sich an wechselnden Orten verstecken. Oder die fußballbegeisterte Folksängerin Sumaia Karimi, die wie Sadiqa Madagar durch die Talent-Show “Afghan Star” bekannt wurde.
Sadiqa Madagar bei einem Konzert; Streaming-Festival “Female Voice of Afghanistan“
Musik ist für sie Bewältigungsstrategie in einem Alltag, der für sie immer von Verlust und Blutvergießen geprägt war. Ihr großer Traum ist es, ein Straßenkinderorchester zu gründen. “Durch Musik verliere ich meine Würde nicht, im Gegenteil: Ich gewinne Würde und bin stolz darauf”, sagt sie an die Adresse der Traditionell-Religiösen. Kürzlich gelang ihr die Ausreise nach Italien, mit einer ungewissen künstlerischen Zukunft.
Taliban knüpfen an traditionelle Überzeugungen an
Zwischen Hamburg und Kabul pendelnd gestaltete Popstar Rouya Doost ihre Karriere. Bis zuletzt hat sie an Projekten in Afghanistan gearbeitet, bis sie von heute auf morgen einer Hälfte ihres Lebens beraubt wurde. Und dann gibt es auch eine Sängerin, die nur vollverschleiert und ohne Klarnamen vor die Kamera tritt. Zweimal war sie verheiratet, der Krieg hat ihr beide Männer genommen, ein Emigrationsversuch scheiterte im Gebirge. Sie hat alles verloren, ihre unbegleiteten Wiegenlieder treffen wie ein Stich ins Herz.
Die Künstlerinnen haben sich alles selbst errungen. Eine musikpädagogische Infrastruktur, eine organisch gewachsene Musikszene war nach 40 Jahren Krieg in Afghanistan nur in Ansätzen vorhanden. Einige von ihnen hat der mit ausländischen Mitteln finanzierte Sender Tolo TV ins Rampenlicht katapultiert. Nun nehmen ihnen die Taliban vorerst jede Aussicht auf eine Verstetigung ihrer Laufbahn.
Doch diese Retraumatisierung des Landes stellt nur das Ende einer geschichtlichen Ereigniskette dar. “Die Taliban sind eine ganz radikale Form einer Tendenz, die in einem Land mit einem extrem traditionellen Islam schon immer existierte und zu der bei Teilen der Bevölkerung auch die Überzeugung gehört: Musik ist Sünde”, sagt Rochholl.
Freshta Farokhi, herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara
Überlagert wurde diese Glaubenswelt durch zwei Jahrhunderte der Fremdbestimmung, die das Misstrauen gegenüber allem Ausländischen tief eingebrannt hat: von der britischen Kolonialphase über den sowjetischen Einmarsch bis hin zur Invasion der NATO, die mit ihrem Drohnenkrieg viele Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat.
Viele Tote gehen auf das Konto der westlichen “Befreier”
Laut der Hilfsorganisation medico international gehen mindestens 100.000 zivile Todesopfer auf das Konto der westlichen “Befreier”. Rochholl: “Wir können und wollen mit unserem Festival keine politisch-historische Analyse von außen betreiben, das wäre überheblich. Aber wenn wir die persönlichen Geschichten dieser Frauen erzählen, dann hat das seine eigene Wahrheit.”
Yaldanis und Rochholls Festival zeigt neben den Porträts auch gefilmte Konzerte und die Resultate ihres Netzwerkens: Durch Begegnungen über Zoom konnten die Musikerinnen die Zusammenarbeit mit westlichen Kolleginnen einfädeln, auch diese spannenden Fusionen werden auf YouTube zu sehen sein.
Alle Sängerinnen nutzen das Medium weiterhin täglich, um zu protokollieren, was ihnen passiert, auch wenn sie sich damit großen Gefahren aussetzen. “Diese Frauen haben einen so starken Charakter. Sie können immer wieder neu anfangen, und sie wollen auch nicht als Opfer gesehen werden,” resümiert Yazdani. “Mehr denn je ist jetzt die Zeit, dass ihre Stimmen gehört werden müssen.”
Streaming-Festival “Female Voice of Afghanistan”: Youtube 15.-18.10.2021, jeweils von 19h – 20h30 MESZ
Dieser Artikel erschien zuerst auf Qantara.de, dem Internetportal der Deutschen Welle für den Dialog mit der islamischen Welt.