Am 13. Juli hängt ein regenschwerer Himmel über Mannheim. Ausgerechnet dieser trübe Tag könnte Hoffnung für Millionen Menschen bringen, die unter Depressionen leiden. An diesem Tag macht der erste Patient eines Forschungsprojekts des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit eine psychedelische Erfahrung. Mit Augenbinde, Musik in den Kopfhörern, begleitet von zwei Therapeuten. Das Halluzinogen für die innere Reise: Psilocybin.

Dieser Wirkstoff ist seit rund 60 Jahren bekannt. Er verleiht den “magic mushrooms” ihre Magie, sprich: ihre bewusstseinsverändernde Wirkung. Und: Er ist nahezu weltweit verboten, in Deutschland seit über einem halben Jahrhundert.

insight 2021 Psychedelische Therapie

Frei von Depressionen durch transzendente Pilz-Erfahrung? Forscher setzen auf den Wirkstoff der “magic mushrooms”

Selbst für die Mannheimer Forscher hat sich “die Substanzbeschaffung als höchste Hürde erwiesen”, erklärt Studienleiter Gerhard Gründer im DW-Gespräch. “Weil es nicht so viele Hersteller gibt auf der Welt, von denen man eine solche Substanz in der geforderten Qualität erhalten kann. Das war ein langer und aufwendiger Prozess.”

Dieser aufwändige Prozess wird immer häufiger in Kauf genommen. Halluzinogene Trips sind schon lange nicht mehr nur die Freizeitbeschäftigung von Hippies. Eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Studien weist auf das Potenzial einer Psilocybin-unterstützten Therapie für die Behandlung von depressiven Patienten – auch von solchen, bei denen andere Therapien ausgeschöpft sind. Die Mannheimer Studie ist mit insgesamt 144 Patienten nun so groß angelegt, dass Gründer “statistisch belastbare Aussagen erwartet”.

Volkskrankheit Depression

Weltweit leben nach Schätzung der WHO etwa 300 Millionen Menschen mit Depressionen. In Deutschland sind es geschätzt fünf Millionen, das Gesundheitsministerium spricht von einer “Volkskrankheit”. Vorsichtig geschätzt kann rund einem Fünftel mit herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht geholfen werden. “Der Bedarf ist riesig”, hält Gründer fest. Und berichtet, dass sein Institut mit Patientenanfragen schier überrannt werde.

Berlin Prof. Gerhard Gründer Insight Konferenz

Kann sich vor Anfragen kaum retten – Gerhard Gründer erprobt Psilocybin-Therapien bei Depressionen

Bei klassischen Therapien wird der Patient mit täglichen Gaben von Antidepressiva behandelt. Der neue Ansatz ist fundamental anders: “Hier geht es darum, einmal oder zweimal diese Substanz zu nehmen” erläutert Psychiatrie-Professor Gründer. “Das ist eine sehr disruptive Therapie, die eingebettet wird in ein psychotherapeutisches Programm.”

Probanden früherer Studien berichten von lebensverändernden Erfahrungen, von deutlich verbesserter geistiger Verfassung, sie konnten sogar ihre Antidepressiva absetzen. Ein Zustand, der noch viele Monate nach dem heilenden Trip anhielt. Die Aussicht, den Zustand schwer depressiver Menschen mit wenigen psychedelischen Sitzungen deutlich verbessern zu können, ist dem Forschungsministerium über zwei Millionen Euro Fördergelder wert. 

Psychedelische Renaissance

Dass inzwischen auch in Deutschland öffentliches Geld in die Forschung mit Psilocybin fließt, zeigt: Psychedelische Forschung drängt von den exotischen Rändern in den medizinischen Mainstream.

Damit sind psychedelische Substanzen wieder da angekommen, wo sie schon einmal in den 1950er Jahren standen: In der psychiatrischen, medizinischen und psychologischen Forschung. Dazwischen lag Anfang der 1960er Jahre die Popularisierung von LSD, eine teilweise durch Drogen befeuerte Jugendrevolution, Umwälzungen in Kultur und Gesellschaft – sowie seit den 1970er Jahren eine Verbotspolitik, die für Jahrzehnte auch seriöse wissenschaftliche Forschung zwar nicht unmöglich machte, allerdings massiv erschwerte. 

Seit rund zehn Jahren bahnt sich in der Wissenschaft eine psychedelische Renaissance und ein Kulturwandel an. Populärwissenschaftlich vorangetrieben unter anderem durch Bücher wie die des US-amerikanischen Bestsellerautors Michael Pollan, “Verändere dein Bewusstsein”.

“Es ist schon so, dass es in dem Feld die Prä-Pollan-Ära und die Post-Pollan-Ära gibt”, umreißt Andrea Jungaberle den Einfluss des auch auf Deutsch erschienenen Buchs. Jungaberle ist Mitbegründerin der Mind-Foundation, die laut ihrer Webseite für die “evidenzbasierte, sichere und legale Anwendung der psychedelischen Erfahrung in Medizin und Gesellschaft” eintritt.

Internationales Experten-Treffen in der Charité

Mitte September hatte die Mind-Foundation die Konferenz “insight2021” veranstaltet. Ort des Treffens des Who-is-Who der internationalen Psychedelika-Forschung: Die Berliner Charité, eine der angesehensten medizinischen Institutionen Deutschlands.

Henrik and Andrea Jungaberle auf der Insight2021 Conference in Berlin

Hendrik und Andrea Jungaberle: Zwei Mitgründer der Mind-Foundation bei der insight-Konferenz

Vier Tage lang wurden neurologische Prozesse erörtert, wurde auf Diagrammen die Wirkung von LSD, Psilocybin und anderen Drogen verglichen, wurde der Forschungsstand auf unterschiedlichsten Gebieten referiert. Sogar eine Mitarbeiterin der deutschen Arzneimittelzulassungsbehörde BfArM war dabei.

“Wir haben es geschafft, das Thema zu entstigmatisieren; es ist ein Diskurs entstanden”, bilanziert die Medizinerin Jungaberle – und fährt nachdenklich fort: “Wie dieser Diskurs sich auf das medizinische Tagesgeschäft auswirken wird, das wird sich noch weisen müssen.”

Die Fachwelt zeigt sich schon einmal begeistert. “Wie Ecstasy und Psilocybin die Psychiatrie auf den Kopf stellen”, titelte Anfang des Jahres das Wissenschaftsmagazin Nature. 

Psilocybin an der Börse

Enthusiastisch ist auch eine wachsende Zahl von Unternehmen. Wenn es nach ihnen ginge, werden Psilocybin, der Ecstasy-Wirkstoff MDMA und andere Substanzen bald flächendeckend gegen Depressionen, Suchterkrankungen und einen bunten Strauß weiterer Krankheiten eingesetzt. Das ist jedenfalls das Ziel der Biotechholding atai Life Sciences des deutschen Investors Christian Angermayer.

Der Mittvierziger spricht gerne in Medien von Handelsblatt bis Wirtschaftswoche über seine eigenen Psilocybin-Erfahrungen auf Jamaica – und hat diesen Sommer sein Unternehmen in New York an die Börse gebracht: Gerade mal drei Jahre nach seiner Gründung ist die Psychedelic-Holding bereits über zwei Milliarden Dollar wert.

Atai ist unter anderem an Compass Pathways beteiligt. Das britische Unternehmen hat ein eigenes synthetisches Psilocybin entwickelt. Damit führt Compass Pathways derzeit eine Phase II-Studie durch. Die ist mit über 200 Patienten an 22 Orten in zehn Ländern die derzeit größte klinische Studie mit Psilocybin der Welt. Das ebenfalls an der New Yorker Nasdaq notierte Unternehmen hat es in den fünf Jahren seiner Existenz auf einen Wert von über einer Milliarde Dollar gebracht.

Dass der Trip-Boom einen ganzen Wirtschaftszweig florieren lässt, zeigt das”Berlin Registry” der Mind Foundation. Aufgelistet sind dort rund 130 Unternehmen der psychedelischen Industrie, von “A Whole New High”, das Psilocybin-Retreats in den Niederlanden anbietet, bis hin zu “Wavepath”, einem Spezialisten für den passenden Sound per Kopfhörer zur Reise nach innen.

Die rasante Entwicklung ist sogar Andrea Jungaberle nicht ganz geheuer. “Unser bester Freund und unser größter Feind ist der Hype”, stellt sie nüchtern fest und wirbt für einen “angemessen Umgang zwischen Verteufelung und Verklärung”.

Peter Gasser teilt diese Einschätzung. Der Schweizer Psychotherapeut arbeitet seit 30 Jahren mit LSD und MDMA, gilt als besonders erfahren. Ihm macht “dieses Tempo fast Angst”, sagt der bärtige Mann mit dem Kurzhaarschnitt der DW. “Diese Aufskalierung von kleinen Nischenbehandlungen: Eben noch ein paar Patienten pro Studie, denkt man nun schon in Millionen.” Gasser fürchtet, die Qualität der Behandlung könne leiden, “weil man es zu technologisch oder zu schematisch sieht”.

Plakat auf der Berliner Insight Konferenz wirbt für eine Ausbildung zum psychedelischen Therapeuten

Überraschende Karrierewege: Der Bedarf an speziell ausgebildeten Therapeuten wächst

Karrierebeschleuniger Trip-Forschung

Der Goldgräberstimmung an den Börsen geht einher mit einer sich rasend schnell entwickelnden Forschungslandschaft. War vor 20 Jahren Forschungsinteresse an psychedelischen Drogen ein sicherer Karriere-Killer, hat sich die Lage inzwischen komplett gedreht. “Wenn Sie ein Institut für Psychiatrie leiten, werden Sie keinen Nachwuchs finden, wenn Sie nicht etwas über Psychedelika anbieten”, schildert Rick Doblin die Lage in den USA.

“Das beste Beispiel ist Harvard, wo Timothy Leary gearbeitet hat: Harvard hat jetzt ein Zentrum für psychedelische Forschung am Massachusetts General Hospital”, fährt Doblin fort – und nennt gleich noch ein halbes Dutzend weiterer neu gegründeter Forschungsinstitute, die Psychedelika in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen.

Doblin hat selbst viel für diese Entwicklung getan. Seit rund vier Jahrzehnten setzt sich der US-Amerikaner für die Therapie mit Psychedelika ein. Auf der insight-Konferenz ist der freundliche Mann mit dem breiten Lächeln ständig dicht umschwärmt von Anhängern und Wegbegleitern. Seine Organisation MAPS (Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies) erprobt seit einigen Jahren die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen, PTSD, mit MDMA.

Ex-Soldaten als Verbündete

Hier hat Doblin mit den US-Veteranenverbänden einen mächtigen Verbündeten gefunden. Abertausende von US-Soldaten sind nach ihren Kampfeinsätzen traumatisiert,arbeits- und  lebensunfähig. Neben dem persönlichen Leid der Patienten sind die Kosten für Behandlung und Unterhalt gigantisch.

Rick Doblin Insight Konferenz Berlin

Rick Doblin gehört zu den Pionieren der psychedelischen Renaissance

Die Arbeit mit Veteranen hat es ermöglicht, “in dem stark polarisierten Umfeld in den USA Psychedelika zu einem überparteilichen Projekt zu machen”, analysiert Doblin – und illustriert das am Beispiel von Ted Crenshaw. Der Texaner mit der Augenklappe war Offizier bei der Elitetruppe SEALs.

Jetzt sitzt der Trump-Anhänger als Abgeordneter der Republikaner im Kongress. “Er hat von all den Navy-SEALs gehört, die für Untergrund-Therapien mit Psychedelika nach Mexiko gegangen sind. Und er hat von Leuten gehört, die an unseren Studien mit MDMA teilgenommen haben. Jetzt ist einer unserer wichtigsten Verbündeten”, berichtet Doblin über den Erfolg der Veteranenarbeit.

Inzwischen droht allerdings der Pionier zum Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden. Die Geldgeber wandern ab, sagt Doblin: “Es gibt inzwischen Hunderte gewinnorientierte psychedelische Firmen. Jetzt haben wir das Problem, dass viele unserer Spender sagen: Warum sollte ich spenden? Ich kann auch investieren.”