Technischer Fortschritt polarisiert. Dass Innovationen belächelt, kritisiert oder gar verteufelt werden, ist kein neues Phänomen. “Schon in den frühesten Schriftzeugnissen, die wir über Techniktheorie haben, finden wir Technikskepsis”, erzählt der Technikphilosoph und Technikhistoriker Christian Vater im Gespräch mit der DW. Hinter dieser Skepsis könnten verschiedene Gründe stecken: die Komplexität technischer Erfindungen, mangelndes Verständnis der Nutzenden oder die Angst vor einem Kontrollverlust.
Ein Beweis für eine allgemeine Technikangst in der Gesellschaft sei diese Skepsis jedoch nicht. “Es ist gut, dass Menschen rational prüfen”, sagt Helmuth Trischler, Leiter des Forschungsbereichs des Deutschen Museums, gegenüber der DW.
Den Unterschied zwischen einer rationalen Abschätzung möglicher Folgen, die eine neue Technologie mitbringt, und einer irrationalen Abwehrhaltung gegenüber technischen Innovationen, betont auch Vater, indem er zwischen Sorge und Panik unterscheidet. “Sorge halte ich für sehr legitim und außerordentlich notwendig, gerade, wenn wir aktiv, gemeinsam in einer informierten Demokratie eine technisch geprägte Zukunft gestalten wollen. Panik allerdings führt typischerweise dazu, dass man unkontrolliert wegläuft.”
Eisenbahn: ein Teufelswerk?
Dass technische Erfindungen gleichermaßen Sorgen und Panik hervorrufen können, zeigt unter anderem die Geschichte der Eisenbahn. Gut 200 Jahre nach ihrer Erfindung ist sie ein gewöhnliches Fortbewegungsmittel.
Doch in ihren Anfangsjahren halten einige Menschen die Eisenbahn für ein bedrohliches Teufelswerk. 1825 wird in England die erste öffentliche Bahnstrecke der Welt eingeweiht. Groß, schnell, laut und rauchend breitet sich die Dampflokomotive in Europa aus. Und mit ihr die Angst vor der “Eisenbahnkrankheit” oder dem “Delirium furiosum”, ausgelöst vor allem durch die – für damalige Verhältnisse – hohen Geschwindigkeiten von rund 30 km/h. Im viktorianischen England, also bis zur Jahrtausendwende um 1900, hält sich die Kritik an dem Verkehrsmittel trotz seiner weiten Verbreitung hartnäckig, wie zeitgenössische Karikaturen oder illustrierte Polizeiberichte belegen.
Mit der Locomotion No. 1 wird 1825 in England die erste öffentliche Eisenbahnstrecke der Welt eröffnet
Aus der Zeit heraus, findet Trischler, seien diese Reaktionen “absolut nachvollziehbar”. Technischer Fortschritt erfordere Neuorientierung und könne Ängste hervorrufen, auf die Menschen mit Prognosen und Befürchtungen reagieren würden. “Das Neue weckt nun mal Emotionen. Technik ist im Grunde immer mit Emotionen verbunden”, erklärt er.
Atomenergie polarisiert
Nicht jede technische Erfindung aber weckt zwangsläufig negative Emotionen. Die Kernenergie beispielsweise wird in Deutschland zunächst ohne großen Widerstand eingeführt. 1957 wird in München der erste deutsche Forschungsreaktor errichtet, vier Jahre später erstmals Atomstrom ins Stromnetz eingespeist. In den 1960er-Jahren gilt die Energiegewinnung aus Kernkraft als saubere und günstige Alternative zu Öl und Kohle und nährt Hoffnungen auf einen erneuten industriellen Aufschwung.
“Atomkraft? Nein Danke”: Die 1970er sind von der Anti-Atomkraft-Bewegung geprägt
Erste Kritik wird in Deutschland 1975 laut, als der Bauplatz eines geplanten Kernkraftwerks besetzt wird. Im baden-württembergischen Wyhl warnen Demonstranten und Demonstrantinnen vor Klimaveränderungen, Grundwasserabsenkung und möglichen Sicherheitsproblemen im Zusammenhang mit Atomkraftwerken. Die Anti-Atom-Bewegung erstarkt – der Unfall in Harrisburg 1979, fehlende Endlager und besonders das Unglück in Tschernobyl 1986 schüren Sorgen und Ängste in Teilen der Bevölkerung. Nach dem Super-GAU in Fukushima beschließt der Deutsche Bundestag 2011 den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie . 2023 geht das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz – begleitet von scharfer Kritik, denn in der Politik und der Gesellschaft gibt es weiterhin viele Befürworter dieser Technologie.
Mensch gegen Maschine?
Wie schmal der Grat zwischen Wohlwollen und Skepsis, Unterstützung und Ablehnung sein kann, wird in der aktuellen Debatte um die KI deutlich. 1956 benutzt der US-Amerikaner John McCarthy erstmals den Begriff Künstliche Intelligenz. Er beschreibt damit ein Teilgebiet der Informatik, dessen Ziel es ist, Maschinen mit menschlichen Fähigkeiten auszustatten.
Nach jahrelangen Entwicklungen auf dem Feld der KI kristallisiert sich die Debatte um das Thema unter anderem an dem Chatbot ChatGPT, der im November 2022 erscheint. Der Chatbot kann mithilfe Künstlicher Intelligenz in wenigen Sekunden selbstständig Texte schreiben – und nicht bei jedem Text ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass er von einer Maschine verfasst wurde. Im März 2023 reagiert Italien als erstes Land mit einem Verbot. Mittlerweile ist die Anwendung wieder verfügbar, allerdings mit Altersprüfung.
So viele Chancen die KI beinhaltet – eine verbesserte Gesundheitsversorgung beispielsweise oder mehr Sicherheit im Verkehr -, so groß ist auch die Kritik an der Technologie. Dabei scheinen die Ängste in zwei Richtungen zu gehen: Die einen sorgen sich um einen möglichen Missbrauch, um Fakes oder Desinformation, um ihre berufliche Zukunft und um das geistige Eigentum. Andere haben Angst vor zukünftigen technischen Entwicklungen, vor einem Kontrollverlust, ausgelöst durch eine immer mächtiger werdende KI.
Ist die KI dazu imstande, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zu verwischen?
Die Angst vor der KI im Allgemeinen sieht Trischler in der Komplexität der Technologie begründet. “Sorgen entstehen besonders in Hinblick auf große technische Systeme, die anonym erscheinen.” Die Frage nach dem konkreten Einfluss der KI auf den eigenen Beruf zum Beispiel sei Vater zufolge eine rationale Sorge. Im Gegensatz zur Furcht vor der Maschine: “Zu prognostizieren, dass sämtliche kreative Leistung des Menschen mit der Verbreitung der KI überflüssig sei und dass Maschinen in naher Zukunft die Welt übernehmen würden, das wäre Panik.”
Technikskepsis kann wichtige Fragen aufwerfen
Ist eine gewisse Skepsis gegenüber neuen Technologien also ganz natürlich? Ja, meinen Christian Vater und Helmuth Trischler. “Aus der Retrospektive sehen wir häufig, dass die Befürchtungen nicht eingetreten sind”, so Trischler. Aus der Zeit heraus seien sie jedoch verständlich.
Die Fähigkeit, Prognosen zu erstellen, sei nützlich, “weil sie uns hilft, uns als Gruppe, als Gesellschaft, als Menschheit, auf die nächsten Entwicklungsschritte einzustimmen”, fasst Vater zusammen. “Dass es dann nicht so kommt, wie wir erwartet haben, ist eigentlich der Normalfall.”