Schon im April hatte der britische Stararchitekt Sir Norman Foster für Aufsehen gesorgt. Er wolle sein Wissen und Können für den Wiederaufbau Charkiws anbieten, kündigte der Brite damals an, und zwar pro bono, also ohne Honorar. Per Videoschalte tauschte sich Sir Norman Foster seither regelmäßig mit dem Bürgermeister Ihor Terechow aus.
Charkiw, bekannt für seine Jugendstilarchitektur, war bis zum Beginn des russischen Überfalls im April die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Gut 1,5 Millionen Menschen lebten hier, nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Charkiw ist auch die Heimatstadt Serhij Zhadans, des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels.
Stararchitekt Norman Foster (rechts) bei seinem Treffen mit Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow im Dezember 2022
Sir Norman Foster zählt zu den Stars seiner Zunft. 1999 wurde ihm der Pritzker-Preis verliehen, der als eine Art Oscar der Architektur gilt. Der 180 Meter hohe Wolkenkratzer “The Gherkin”, der sich wie eine gedrehte Spindel in den Londoner Himmel schraubt, die futuristische Millennium Bridge über die Themse, der Apple Park im kalifornischen Cupertino oder auch die Glaskuppel des Reichstags in Berlin – diese und andere prestigeträchtigen Projekte entstammen Fosters Architekturschmiede.
Foster baute auch für die Fußball-WM in Katar
Doch zog der mit Preisen überhäufte Architekt zuletzt auch Kritik auf sich. Denn sein weltweit vernetztes Büro übernahm auch spektakuläre Aufträge für autoritäre Regime. So entwarfen “Foster + Partners” etwa ein gewaltiges transparentes Zelt in Kasachstans Hauptstadt Astana, einen Flughafen in Peking, das Fußball-WM-Finalstadion in Katar, in Ländern also mit – laut Amnesty International – bedenklicher Menschenrechtslage.
Benedikt Hotze, Sprecher beim Bund Deutscher Architekten, findet das Vorgehen Sir Norman Fosters, sich zu diesem Zeitpunkt mit einem Masterplan für Charkiw international ins Gespräch zu bringen, zwar “nicht ehrenrührig”. Ein solches Gebaren sei in der Branche jedoch eher ungewöhnlich. Hotze zur DW: “So arbeiten Büros eigentlich nicht.”
Ein Arbeiter repariert das Fernwärmenetz von Charkiw – Bild von Oktober 2022
Charkiws Bürgermeister Terechow, der zugleich das Forum ukrainischer Bürgermeister vertritt, stand seit April im ständigen Telefonkontakt zu Foster, wie das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet. Währenddessen regte sich offenbar Unmut in der Stadt: Der Masterplan für den Wiederaufbau Charkiws sei der ukrainischen Öffentlichkeit nie präsentiert worden, sagte die Architekturhistorikerin Jewgenija Gubkina der “Neuen Zürcher Zeitung”. Die Diskussion darüber finde hinter verschlossenen Türen statt, was “völlig unangemessen” sei. Lediglich Details sickerten manchmal durch.
Bauen wie beim Berliner Reichstag
Ein prominentes Detail betrifft etwa das Haus der Regionalverwaltung, das durch einen Raketenbeschuss am 1. März 2022 stark zerstört wurde und völlig ausbrannte. Das konstruktivistische Gebäude aus den 1920er-Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg im stalinistischen Zuckerbäckerstil wiederaufgebaut, trage “viele historische Schichten”, sagte die ukrainische Stadtforscherin Iryna Sklokina der Tageszeitung “taz”. Deshalb werde über seine Zukunft kontrovers diskutiert. Ein Abriss sei ebenso im Gespräch wie die Rekonstruktion der Version aus Stalins Zeiten, bei der man die Spuren der Raketeneinschläge sichtbar lasse. Foster hingegen wolle nur die historische Fassade erhalten, jedoch das Innere ganz neu bauen – wie Foster es bereits beim Berliner Reichstag vorgeführt hat, so Sklokina.
Am dritten Dezemberwochenende ist Norman Foster in die Ostukraine gereist. Sein Treffen mit Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow ist auf der Website vonFosters in Spanien ansässiger Stiftung professionell dokumentiert. Die Stiftung betont, man habe die Bevölkerung über Fragebögen beteiligt, auf die es 16.000 Antworten gegeben habe. Von rund 100 Treffen und wöchentlichen Arbeitssitzungen mit der Kharkiv Group of Architects wird berichtet, einer Gruppe bestehend aus zehn örtlichen Architekten, Stadtplanern und Historikern.
Fünf Projekte für den Wiederaufbau
Für den Wiederaufbau seien fünf Pilotprojekte identifiziert worden, auf die der Masterplan aufbaut. Das “Kulturerbe-Projekt” werde ein neues architektonisches Wahrzeichen im Stadtzentrum schaffen. Das “Flussprojekt” soll einen sechs Kilometer langen Streifen zwischen den Flüssen Charkiw und Nemyschlya in eine ökologische Verbindung für Fußgänger und Radfahrer verwandeln.
Die Feuerwehr im Einsatz: Eine russische Rakete hat im September 2022 das Energiekraftwerk in Charkiw getrofffen
Im Rahmen des “Industrieprojekts” werde ein Kohlekraftwerk in ein Zentrum für saubere Energie und Lebensmittel umgewandelt, impulsgebend für die Industrie in ganz Charkiw. Das “Wohnungsbau-Projekt” soll vorhandene Gebäude sicher, modern und energieeffizient machen. Und ein Pilotprojekt “Wissenschaft” schließlich dient der Ansiedlung von Technologieunternehmen, Forschungfirmen und Start-ups.
Auch in deutschen Architektenkreisen wird bereits über Wiederaufbauangebote an die Ukraine nachgedacht. Gespräche dazu seien bereits geführt worden, sagt Markus Lehrmann, Hauptgeschäftsführer der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, der auch von “bilateralen Ukraine-Kontakten einzelner Architekten” berichtet. Doch erst müsse wieder Frieden einkehren. Derzeit brauche die Ukraine Erste Hilfe beim Wiederherstellen der Infrastruktur, von Fernwärme-, Strom- und Wassernetzen. “Derzeit”, so Lehmann, “haben die Menschen ganz andere Sorgen.”