Am 1. November 2022 wurden in Israel Wahlen abgehalten, mit dem Ergebnis, dass der rechte Block eine klare Mehrheit erhielt. Eine Woche nach der Regierungsbildung legte der Justizminister seinen Plan für signifikante Änderungen im Justizsystem vor. Die vorgeschlagenen Änderungen würden der Regierung und ihrem Vorsitzenden uneingeschränkte Macht verleihen, was die Bürgerinnen und Bürger dazu veranlasste auf die Straße zu gehen, um ihrem Unmut Luft zu machen – ich war eine von ihnen.
Bereits bei der ersten Demonstration konnte niemand die alte Dame übersehen. Sie saß in einem Rollstuhl und war in die israelische Flagge gehüllt. Ihr Name: Toni Webber. Sie ist die Mutter meines Freundes und Holocaust-Überlebende.
Als ich vor zwanzig Jahren – am Vorabend des Holocaust-Gedenktags – mit einer israelischen Delegation zum Marsch der Lebenden nach Auschwitz in Polen fliegen wollte, bat Toni mich, dringend zu ihr zu kommen. “Wenn du dort in Auschwitz bist”, sagte sie, “sag meinen Eltern, dass ich gerettet wurde, dass ich in Eretz Israel (traditionelle hebräische Bezeichnung für Israel, Anm. d. Red.) angekommen bin, und dass ich in der Hagana (zionistische Untergrundorganisation in Palästina während des britischen Mandats 1920-1948, Anm. d. Red.) gekämpft habe. Sag ihnen, dass ich nicht hungrig bin, dass ich ein Zuhause und eine Familie habe und dass es keinen Tag gibt, an dem ich mich nicht an sie erinnere.”
Während sie sprach, bereitete sie ein Paket vor. Hinein legte sie einen Blumenstrauß aus ihrem Garten, frisches Challah (traditionelles jüdisches Brot, Anm. d. Red.) und einen silbernen Löffel, den ihre Mutter ihr vor dem Abschied damals geschenkt hatte – mit den Worten: “Damit du etwas zum Essen hast.” Toni bat mich, all dies in der Erde in der Nähe des Krematoriums zu begraben. Das tat ich.
Lizzie Dorons Freundin Toni Webber nimmt im Rollstuhl an den Demonstrationen teil. Ihr Aufkleber besagt: “Kahanismus, Rassismus, Homophobie: nicht in unserer Schule!”
Inzwischen treffen wir uns jeden Samstagabend an der Ecke des Platzes, der heute “Demonstrationsplatz” heißt. “Ich weiß, was Faschismus ist”, sagt Toni zu mir, “versprich mir, dass du nicht aufgibst!” Sie schaut mich mit durchdringendem Blick an. Und ich verspreche es ihr.
Schauer der Vergangenheit
Der Riss in der israelischen Bevölkerung wird immer größer, die Spannungen im Land nehmen zu und mit ihnen auch die Gewalt. Das Gefühl des Ausnahmezustands bereitet sich unter der liberalen und säkularen Bevölkerung aus. In den Augen vieler Regierungsmitglieder und rechter Aktivisten sind Menschen wie Toni und ich eine Bande von Anarchisten, Verrätern und Faschisten. Einige sind bereits verhaftet worden.
Nach der fünften Demonstration folgt mir eine Gruppe wütender Jugendlicher nach Hause. “Tod den Linken!” rufen sie. Mein Herz klopft, als sie mir bis zur Eingangstür meines Hauses folgen. Ich eile die Treppe zu meiner Wohnung hinauf – und sie verschwinden.
In dieser Nacht, als ich verzweifelt versuchte einzuschlafen, erschien mir im Traum meine Mutter. Sie trug einen zerschlissenen Mantel, abgewetzte Schuhe und hatte einen abgenutzten Koffer in der Hand. Mit einer Stimme, die so klar war wie in meiner Kindheit, sagte sie zu mir: “An einem Ort, an dem Menschen der Tod entgegengeschrien wird, musst du aufstehen und gehen.” “Aber ich gehe doch”, antworte ich ihr. Sie starrte mich an, verstand mich nicht. “Ich gehe zu den Demonstrationen”, erkläre ich. “Du musst hingehen. Du musst hingehen”, wiederholt sie mehrmals. “Pass auf dich auf”, fügt sie noch hinzu und verschwand.
“Schade, dass Hitler euch nicht getötet hat”
Unterdessen bleibt die Regierung bei ihrem eingeschlagenen Kurs und die Proteste werden immer stärker. Hunderttausende schwenken israelische Flaggen und schreien aus voller Kehle: “Dies ist nicht Polen, dies ist nicht Ungarn, dies ist weder die Türkei noch der Iran.” Sie schreien: “DE-MO-CRA-CY!” Hass und Gewalt breiten sich aus. Die einen träumen von einem orthodoxen Religionsstaat, die anderen von einem demokratischen Staat – und die Feindseligkeit nimmt weiter zu.
Bei jeder Demonstration fragen Toni und ich uns voller Schmerz: “Was ist passiert? Wie konnten es soweit kommen?” Erinnerungen an die schrecklichen Tage in Europa zwischen 1933 und 1939 kommen hoch – und mit ihnen die Angst. In der 12. Woche der Proteste hielt direkt neben uns ein Auto, ein Mann guckte heraus und rief: “Schade, dass Hitler euch nicht getötet hat! So Gott will, werdet ihr in den Gaskammern verbrennen.” Ich hoffte, dass Toni es nicht gehört hatte. Zur nächsten Demonstration kam ich mit einem Pfefferspray. Doch ich sagte ihr nichts davon.
Die Demonstrationen gehen weiter
Nach dem Holocaust-Gedenktag kam der israelische Tag des Gedenkens an die gefallenen Soldaten. Die Demonstrationen haben Woche 16 erreicht. Wie jedes Jahr lege ich einen Blumenstrauß auf Davidis Grab.
An meinem ersten Schultag saß Davidi neben mir. Meine Mutter war glücklich, denn er war wie ich ein Einzelkind, und seine Mutter hatte wie meine Mutter den Holocaust erlebt. Wenn mich jemand in der Pause schlug, gab Davidi ihm eine Ohrfeige. Wenn jemand versuchte, mein Mittagessen zu stehlen, trat Davidi dazwischen und verhinderte es. In der dritten Klasse hat er mir gesagt, dass er mich liebt, und ich bin rot geworden. Er kaufte mir einen roten Lutscher, und in der sechsten Klasse traten wir gemeinsam den Pfadfindern bei. Meine Mutter hat mir das nur erlaubt, weil Davidi auch dabei sein würde. Wir gingen überall zusammen hin. Davidi war überzeugt, dass wir nie wieder einen Holocaust erleben würden. Er sagte, dass wir unser Land immer beschützen würden.
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Wir sprachen mit Stolz über die israelischen Verteidigungskräfte, und wir sprachen über Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden. Wir blieben nicht immer so eng, als wir heranwuchsen schlossen wir neue Freundschaften. Doch an dem Tag, an dem er seinen Einberufungsbefehl erhielt und mir sagte, dass er zur Armee gehen würde, schwor er, dass er mich beschützen würde. An Jom Kippur 1973, als der Krieg ausbrach, war Davidi um zwei Uhr nachmittags zu Hause. Er beeilte sich, um sich bei seiner Einheit zu melden. In seiner Uniform und mit seiner Waffe in der Hand kam er bei mir vorbei und sagte, dass er es dieses Mal wirklich ernst meine. “Mein Panzer und ich werden dich beschützen”, versprach er. Wir umarmten uns und ich sagte zu ihm: “Pass auf dich auf.” Er antwortete: “Sicher.” Aber er kam nicht zurück.
“Tränen in meinen Augen”
Inzwischen sind bereits fünfzig Jahre vergangen. Israel feiert seinen 75. Geburtstag. Doch in mir ist etwas zerbrochen. Warum wurde Davidi getötet? Und obwohl ich Toni versprochen habe, dass ich nie aufhören würde für mein Land zu kämpfen, habe ich Angst, dass ich müde werde.
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Am Abend des Unabhängigkeitstages (gemäß dem jüdischen Kalender fiel das Jubiläum bereits auf den 26. April, nach dem gregorianischen Kalender ist der 14. Mai der Stichtag, Anm. d. Red.) machte ich mich wieder auf den Weg zum Demonstrationsplatz, in der Annahme, dass Toni auf mich wartete. Doch sie rief an und sagte, dass sie nicht kommen könne, da sie Herzprobleme habe. Aber sie bat mich zu gehen – und nicht zu verzweifeln, “weil du weißt, dass wir kein anderes Land haben”. Ich sagte ihr, dass ich auf dem Weg sei, und sie antwortete: “Pass auf dich auf. Hab einen schönen Unabhängigkeitstag.”
“Du auch”, entgegnete ich. Und so stand ich mit der israelischen Flagge in der Hand, Pfefferspray in der Tasche und Tränen in den Augen auf dem Demonstrationsplatz und feierte den 75. Unabhängigkeitstag des Staates Israel.