Ein Wohnblock, irgendwo in Deutschland. In der Tiefgarage, im Fahrstuhl und selbst hinter verschlossenen Türen geraten Menschen in Streit, schreien oder verfluchen sich. In Wänden, Türen, Böden und Decken tun sich derweil immer größere Risse auf. Verstörende Bilder entstehen, angsteinflößende Töne. Bis schließlich ein kleiner Junge den ersten Schritt macht: “Lass reden”, so die Botschaft im Werbespot von Penny, einem großen deutschen Lebensmitteldiscounter.
Krieg in Europa, Corona-Pandemie, wirtschaftliche Sorgen, gestresste Menschen, die nicht mehr fähig sind zum Gespräch, was suchen die im Weihnachtsvideo eines Einzelhandelskonzerns?
Christoph Everke, Kreativer Kopf der Münchener Agentur Serviceplan Campaign
Christoph Everke, Kreativ-Geschäftsführer der Münchener Agentur Serviceplan, die sich die Penny-Kampagne ausgedacht hat, sagt: “Wir wollten aufgreifen, was die Menschen bewegt. Die Krisen und auch die Risse, die die Menschen wahrnehmen, getrieben durch das Aufeinanderprallen von Meinungen, in den sozialen Medien oder in der Familie oder auf der Straße”, so Everke im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Der Pionierfilm: “Heimkommen”
So entstand die Idee für das Video mit der versöhnlichen Botschaft, wie der Werbemann darlegt: “Wir sollten wieder miteinander reden, anstatt aufeinander loszugehen.” Seit wenigen Jahren machen Weihnachtsfilme wie “Der Riss” von sich reden. Vorreiter in Deutschland war der Edeka-Konzern, der 2015 mit “Heimkommen” einen genialen Überraschungscoup landete: Nach Jahren des traurigen Alleine-Feierns greift ein alter Mann zu einem verzweifelten Trick, um seine in aller Welt verstreuten Kinder endlich wieder unter dem Weihnachtsbaum zu versammeln – er verschickt seine Todesanzeige. Die Botschaft, die die Herbeigeeilten mit dem vermeintlich Verstorbenen feiern, trifft mitten ins Herz: “Es ist Zeit, heimzukommen.” Mehr als 69 Millionen Menschen hat der Clip bis heute erreicht – und viele davon zu Tränen gerührt.
Besonders in Deutschland haben Weihnachtskampagnen seither Konjunktur: “Größere Unternehmen und ganz besonders Lebensmittelketten beziehen Position zu gesellschaftlichen Trends”, sagt Michael Bernecker, Experte beim “Deutschen Institut für Marketing” in Köln. Die Fachwelt spricht von “Corporate Social Responsibility”, gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung. Und meint damit den freiwilligen Beitrag der Wirtschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung – über gesetzliche Vorgaben hinaus. Doch auch Everke räumt ein, dass es eigentlich um langfristige Kundenbindung geht.
Firmen mit Haltungsbotschaft
Viele Unternehmen lassen sich das einiges kosten. Nach Berneckers Angaben sind die Lebensmitteldiscounter in Deutschland die spendabelsten Werbetreibenden überhaupt, mit Werbeausgaben von jährlich 200 Millionen Euro. Teile der Budgets fließen in Weihnachtskampagnen. Ein Werbefilm wie “Der Riss” etwa kostet laut Bernecker einen siebenstelligen Betrag.
Pionier auf diesem Marketingsektor war der britische Handelskonzern John Lewis, der bereits in den Zehnerjahren anrührende Animationsfilme produzierte und so das Genre der “Christmas Ads” europaweit populär machte. Seine Videos, angesiedelt irgendwo zwischen Filmkunst und Marketing, setzten Maßstäbe und fanden Anerkennung selbst in den Redaktionen seröser Zeitungen wie etwa des britischen Guardian. In den USA hingegen konzentrieren sich Werbekampagnen traditionell auf den Super Bowl im Februar, wenn das Fernsehpublikum das Saisonfinale der National Football League verfolgt. Dann schlägt die Stunde der US-Werbeindustrie.
Zumindest in christlichen Weltregionen ist Weihnachten – das Fest der Liebe – auch ein Fest für die Werbewirtschaft. Politisch, bunt, emotional: Mal mit lustigen, mal mit anrührenden oder auch aufrüttelnden Clips ringen Unternehmen um Aufmerksamkeit. Doch selten geht es dabei um die Produkte einzelner Marken, stattdessen immer häufiger um Zeit- oder Gesellschaftsfragen. Firmen positionieren sich. “Über die Zeit hat sich aus einer reinen Weihnachtsbotschaft eine Haltungsbotschaft entwickelt”, sagt Werbemann Everke. Die Haltung von Penny? “Wir finden Gemeinschaft gut.”
Das Fest der Werbeindustrie
Viral ging schon im vergangenen Jahr ein Video der norwegischen Post: “When Harry meets Santa” erzählte die rührende Geschichte eines Mannes, der sich in den Weihnachtsmann verliebt und dessen Gefühle nicht unerwidert bleiben. Noch aktueller ist der diesjährige Spot “Father Christmas and Mother Earth”, ein dringlicher Appell zum Stopp des Klimawandels.
Sehenswert auch “Brave Face”, (Mutiges Gesicht) der Weihnachtsfilm der britischen Hilfsorganisation “Shelter”, die sich um obdachlose Menschen kümmert. John Lewis hat 2022 den Clip “The Beginner” (Der Anfänger) produziert. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich auf die Ankunft seiner Pflegetochter vorbereitet, indem er Skateboard fahren lernt. Der Onlinehändler Amazon liefert in seinem diesjährigen Weihnachtsspot keine Pakete. Was ein alleinstehender Vater benötigt, um seine Tochter an Weihnachten glücklich zu machen, wird beim Nachbarn ausgeliehen.
Ein Lächeln gegen die Armut
“Ist Weihnachten die überwürzte Suppe emotionaler Überwältigung in den besten Zeiten?”, fragt der britische Guardian. “Oje”, stellt das Blatt schnell fest, “es sind nicht die besten Zeiten. Wegen der globalen Klimaerwärmung ist das Wetter draußen nicht furchtbar, dafür die Schaufenster voller Kugeln und Glitzer, während Weihnachten für viele wie die diesjährige Shelter-Werbung aussehen wird, in der ein kleiner Junge seine Mutter in einer trostlosen Notunterkunft tapfer anlächelt.”
Mehr als 18 Millionen YouTube-Nutzende haben das Penny-Video “Der Riss” – Regie führte Seb Edwards – mittlerweile gesehen, mit starken Reaktionen: “Ein krasser Film, der zum Nachdenken anregt”, schrieb eine Userin. “Ihr trefft den Zahn der Zeit und den Menschen mitten ins Herz”, lobte eine andere. “Inspirierender als jede Weihnachtsmesse in der Kirche”, formulierte ein Dritter. Doch es gibt auch Kritik: “Was hat dieser Clip mit dem Discounter zu tun?”, wundert sich ein Zuschauer. “Befremdlich, dass nun Supermarktketten für die Vermittlung von moralisch-ethischen Werten eintreten”, notiert eine andere. Jemand fragt: “Wäre es nicht die Aufgabe unserer Politik, so eine Botschaft zu verbreiten?”