Paris im Juli 1940. Ein Kind schaut aus dem Fenster. Auf der Straße laufen Menschen mit Kisten und Koffern vorbei. “Fliehen wir auch?”, fragt Samuel seine Eltern. “Nein”, entgegnet sein Vater. “Wir sind mutig und bleiben hier.” Kurz darauf wird Samuel in sein Zimmer geschickt und lauscht seinen Eltern. “Es ist nicht sicher”, hört er seine Mutter sagen. “Wir sind so gut wie tot, wenn wir hierbleiben.” – “Wir können nirgendwo hingehen”, sagt sein Vater resigniert. “Welche Wahl haben wir?”
In “The Light in the Darkness” gibt es kein Entrinnen: Jedes Familienmitglied stirbt im KZ
Sie haben keine Wahl. Die jüdische Familie wird auseinandergerissen. Zuerst wird der Vater deportiert. Dann die Mutter und schließlich der Junge. Alle sterben im KZ Auschwitz. Dann endet das Spiel “The Light in the Darkness”, das im Abspann Schwarz-Weiß-Fotografien jüdischer Kinder zeigt, die den Holocaust nicht überlebt haben. Mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden im Zweiten Weltkrieg von den Nazis ermordet.
Im KZ Auschwitz-Birkenau wurden mehr als 1,1 Millionen Menschen getötet: Heute ist der Ort Gedenkstätte
Der Holocaust ist Luc Bernards Lebensthema
“Ich komme über die sechs Millionen Toten nicht hinweg. Ich kann es nicht vergessen. Ich kann auch nicht verzeihen”, sagt der Spieleentwickler Luc Bernard im Video-Interview mit der DW. “Ich gedenke derer, die gestorben sind. Ich reduziere sie nicht nur auf Zahlen, denn für mich waren sie unsere Familien, Freunde, Nachbarn und Bürger.” Der 37-jährige jüdische Brite, der in Frankreich aufgewachsen ist und inzwischen in den USA lebt, hat das Spiel “The Light in the Darkness” fast ganz allein geschaffen.
Es ist ein Herzensprojekt, das er seit 2008 mit sich herumträgt. Doch es dauerte knapp 15 Jahre bis er das Spiel endlich veröffentlichen konnte. Es hätte so viele Weltkriegsspiele gegeben, aber keines über den Holocaust. Das zu ändern, sei seine Motivation gewesen. Außerdem mache ihm der weltweit zunehmende Antisemitismus Angst: “Ich glaube, dass es immer schlimmer wird. Es sei denn, wir ändern unsere Erinnerungskultur.”
Lange Zeit war es ein Tabu, die Gräuel der Nazi-Zeit in einem Computerspiel darzustellen. Bernard galt innerhalb der Spielebranche als der “Holocaust Guy”. Fördergelder oder Unterstützung von NGOs erhielt er nicht. Er hat sein ganzes Geld in das Spiel gesteckt und bietet es dennoch gratis an. Erst jetzt, nachdem das Spiel veröffentlicht wurde, erhalte er Zuspruch – vor allem aus Europa, aber auch von der israelischen Regierung. In den ersten Wochen nach Release hätten 100.000 Menschen sein Spiel runtergeladen.
Wie kann Holocaust-Aufklärung junge Menschen erreichen?
Je weiter wir uns vom Holocaust entfernen, desto schwieriger sei es, ein gesellschaftliches Bewusstsein für den Massenmord an Jüdinnen und Juden zu schaffen, meint Bernard. Über sein Spiel will er insbesondere junge Menschen auf das Thema aufmerksam machen Man müsse mit den Inhalten zu ihnen und in ihre Lebenswelten kommen, anstatt zu hoffen, dass sie von sich aus ins Museum gingen oder Gedenkstätten besuchten, sagt er.
Bernards eigene Familiengeschichte reicht in die NS-Zeit zurück. Seine britische Großmutter, deren erster Mann ein deutscher Jude war, habe sich um jüdische Kinder gekümmert, die 1938/39 mit den so genannten Kindertransporten von Deutschland nach Großbritannien in Sicherheit gebracht wurden.
Kindertransporte: Zwischen 1938 und 1939 wurden rund 10.000 jüdische Kinder ins Ausland in Sicherheit gebracht
“In der Videospiele-Industrie scheinen Juden, unsere Geschichte und unser Trauma, nicht viel zu zählen”, beklagt Bernard. Der Zweite Weltkrieg gehört seit Jahrzehnten zweifelsfrei zu den beliebtesten historischen Settings in Videospielen, vor allem in Strategie- und Shooter-Spielen. Er wird in der Regel aus militärischer Sicht erzählt: Die Spielenden sind heldenhafte US-Soldaten, die die Welt von den Nazis befreien. Oder sie befehligen Truppen und stellen Schlachten nach. Ein zentraler Aspekt bleibt jedoch fast immer unerwähnt: der NS-Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden.
Videospiele prägen unsere Erinnerung
Aber Spiele prägen unsere kulturelle Erinnerung und beeinflussen unsere Vorstellung von historischen Ereignissen. Wenn der Holocaust in Spielen nicht stattfindet, sei das problematisch, sagt Christian Huberts von der Stiftung digitale Spielekultur, die Spielentwickler in die Lage versetzen will, sich in ihren Games sensibel mit dem Thema auseinanderzusetzen. Während es vor zehn Jahren undenkbar war, NS-Verbrechen in Videospielen abzubilden, hätte Ende der 2010er-Jahre ein Bewusstseinswandel innerhalb der Spieleindustrie stattgefunden. Mittlerweile würden Spiele kritisiert, die die Judenverfolgung und den Holocaust komplett ausblenden oder die Geschichte verfälschen, sagt er im DW-Interview.
Ego-Shooter löst Debatte um Geschichtsrevisionismus aus
Vor allem der Ego-Shooter “Wolfenstein II: The New Colossus”, der in einer alternativen Wirklichkeit spielt, in der die Nazis den Krieg gewonnen und die USA besetzt haben, polarisierte. Es ist eine altgediente Spielereihe, die schon seit den 1990ern aufgrund des hohen Gewaltgrades für Skandale sorgte.
Es gibt zwei Versionen des Spiels, das 2017 erschienen ist – eine deutsche und eine internationale. Aufgrund der Gesetzeslage in Deutschland, die zum Beispiel die Darstellung von verfassungsfeindlichen Symbolen wie Hakenkreuzen in Videospielen – und in der Öffentlichkeit – verbietet, wurden in der deutschen Fassung alle Inhalte entfernt, die strafrechtlich relevant sein könnten. “Das sah dann so aus, dass Adolf Hitler Herr Heiler heißt und keinen Schnurrbart mehr hat. Dass die Mutter des Protagonisten plötzlich nicht mehr Jüdin ist, sondern einfach nur als Verräterin bezeichnet und deswegen gefangengenommen und getötet wird. Das heißt, das Spiel hat in der deutschen Version ganz aktiv die Judenverfolgung ausgeblendet”, erklärt Huberts.
Das habe eine Debatte ausgelöst, die schließlich dazu geführt habe, dass der Rechtsrahmen in Deutschland angepasst wurde. Seitdem dürfen auch Videospiele verfassungswidrige Symbole zeigen, wenn die Verwendung “der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte” dient.
Studien der Jewish Claims Conference, die sich für Entschädigungsleistungen und die Unterstützung von NS-Opfern einsetzt, haben ergeben, dass viele Menschen in den USA, in Frankreich, in Kanada, in den Niederlanden und in Österreich nicht über den Holocaust Bescheid wissen. Besonders unter den Millennials und der Generation Z sind viele davon überzeugt, dass die Zahl der getöteten Juden übertrieben hoch sei. Einige halten den Holocaust gleich ganz für einen Mythos.
Interaktive Medien bieten neue Erzählformen
Gleichzeitig sind Spiele für mehr als die Hälfte der Millennials das Unterhaltungsmedium Nummer Eins. Warum also nicht die Erinnerung an den Holocaust mit Spielen verknüpfen? Mit Computerspielen lasse sich gut lernen, bestätigt Huberts. Spiele könnten nicht nur historische Räume und Landschaften, sondern auch die Funktionsweise politischer Systeme unmittelbar erfahrbar machen. Spielende könnten zum Beispiel dadurch, dass sie in einem Spiel immer weniger Möglichkeiten erhalten, in eine Handlung einzugreifen, erleben, “wie ein faschistisches politisches System seine Macht ausbreiten kann, wie plötzlich Rechte verschwinden.”
Die fiktive Staatsanwältin Esther Katz deckt im Spiel “The Darkest Files” reale NS-Verbrechen auf
Doch Lernspiele oder “Serious Games” lassen die meisten Spielerinnen und Spieler links liegen. Daher geht auch das Berliner Studio Paintbucket Games einen anderen Weg. Die Gründer Jörg Friedrich und Sebastian Schulz wollen Spiele machen, die sich abheben von den sich immer wiederholenden Themen. Sie stehen hinter dem Strategie-Spiel “Through the Darkest of Times” (2020), in der die Spielenden eine Widerstandsgruppe aus Zivilisten leiten, die von 1933 bis 1945 gegen das NS-Regime kämpft.
In ihrem Detektiv-Spiel “The Darkest Files”, das 2023 erscheinen soll, schlüpfen die Spielenden in die Rolle einer fiktiven Staatsanwältin, die reale NS-Verbrechen aufdeckt. Ihr Chef ist Fritz Bauer (1903-1968), der als Initiator des Auschwitz-Prozesses gilt. “Wir versuchen nicht, eine mahnende, moralische, erziehende Software zu produzieren”, sagt Jörg Friedrich im DW-Gespräch. “Uns geht es darum, ein interessantes, spannendes, mitreißendes Spiel zu machen, das ein Thema, das untererzählt ist in Spielen, angemessen behandelt.”
Luc Bernard fordert mehr Spiele über den Holocaust
Videospiele sollen Bücher, Ausstellungen und Dokumentarfilme über den Holocaust nicht ersetzen. Aber sie können eine gute Ergänzung sein und womöglich Menschen erreichen, die sich sonst gar nicht mit der Judenverfolgung und -vernichtung im Nationalsozialismus auseinandergesetzt hätten. Davon ist jedenfalls der Spieleentwickler Luc Bernard überzeugt. “Es muss einfach mehr Spiele über diese Zeit geben, nicht nur Kriegsspiele. Je mehr, desto besser.”