Eine Wellblechhütte hat sich vor den Eingang der documenta-Halle geschoben, aus der Straßenlärm aus Nairobi dringt, der Hauptstadt Kenias. Phantasievoll bemalte Pappkameraden eines indonesischen Künstlerkollektivs bevölkern den Friedrichsplatz im Zentrum Kassels.

Im Schatten der Säulen des Museums Fridericianum kauert ein Zelt, das ein Künstler zur Botschaft der australischen Aborigines deklariert hat. Schreiend bunt und sehr politisch geht es zu bei der diesjährigen Weltkunstschau.

“Wir gehen hier auf Weltreise”, raunt eine Besucherin. Und trifft damit exakt den Kern des Kunstfestes: Die documenta hat gerufen. Rund 1000 Künstler, besonders viele aus den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, sind gefolgt. Sie haben ihr Leben mitgebracht, ihre Ideen, Sichtweisen und Geschichten, sie prägen nun für 100 Tage die nordhessische Metropole.  

Viele Neuerungen auf der documenta15

Doch vieles ist dieses Mal anders. Hier ein Gemälde, dort eine Skulptur? Das war einmal: Der Parcours zwischen den 32 Ausstellungsorten, die sich über die ganze Stadt verteilen, hat nichts von einem Museumsbesuch. Es geht weniger um einzelne Kunstwerke, sondern vielmehr um Prozesse und Projekte. Gefragt sind Künstlerkollektive statt großer Künstlernamen.

Das allgemeine Glück der Menschen, Rechte von Geflüchteten, Möglichkeiten der Teilhabe, die geballte Kraft von Gemeinschaften, praktizierte Gastfreundschaft, Formen des Widerstands mit Mitteln der Kunst: Das alles propagieren die Kuratoren des indonesischen Künstlerkollektivs ruangrupa. “Lumbung”, nennen sie ihr Prinzip – nach einer Reisscheune, in der überschüssige Ernte gelagert und zum Wohle aller verteilt wird.

Ein Boot aus einem umgedrehten Hausdach fährt auf einem Kanal

Mit ihrem “citizenship” fährt eine Berliner Künstlergruppe über Wasserstraßen nach Kassel

Das ist ein Denken, das Matthias Einhoff, Mitgründer des Berliner Zentrums für Kunst und Urbanistik, schon lange begeistert. “Uns interessiert, was man als Gesellschaft gemeinsam erreichen kann gegenüber dem Einzelkämpfertum. Was man dann mehr hat, ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Das versuchen wir zu leben.” Das Berliner Kollektiv aus Künstlern, Architekten und Kuratoren hat für die documenta ein “citizenship” aus dem überschüssigen Dach ihres Gebäudes gezimmert, das nun – gemäß dem Prinzip Lumbung” – über Deutschlands Wasserstraßen von Berlin nach Kassel schippert. “Man muss Zeit mitbringen, sich auf die Prozesse einzulassen”, sagt Einhoff. “Das ist der Kern, um diese documenta verstehen zu können.” 

“Afrika hat mehr zu bieten”

Das beginnt schon im Fridericianum, das Archive beherbergt, die in Videos, Fotos, Plakaten und Objekten die künstlerische und politische Arbeit in verschiedenen Ländern dokumentieren – den Kampf um Frauenrechte in Algerien, gegen die Diskriminierung von Roma in Ungarn, die Apartheid in Südafrika oder die Bewegung um Black Lives Matter. Lineo Segoete vom Netzwerk “Another Roadmap Africa Cluster” aus Südafrika sagt: “Unsere Botschaft ist, dass Afrika mehr zu bieten hat als das koloniale oder eurozentrische Narrativ. Darüber wollen wir selbst die Kontrolle übernehmen.” 

Richard Bell vor seiner Aborigenes-Botschaft auf der documenta fifteen

Richard Bell vor seinem Botschafts-Zelt. Der Aktionskünstler streitet für die Rechte der indigenen Aborigines.

Im Erdgeschoss des klassizistischen Baus ist die “Gudskul” eingezogen, ein Wohn- und Arbeitsraum für die Kollektive, die der documenta fifteen ihr Gesicht verliehen haben. Besucherinnen und Besucher können sie mit etwas Glück beim Werkeln, Kochen, Chillen oder Karaoke-Singen antreffen. Bilder gibt es hier auch zu sehen: Große Gemälde des Australiers Richard Bell hängen an den Wänden im Obergeschoss. Der australische Aborigines-Aktivist ist der wohl bekannteste Künstler dieser documenta. “Ich will”, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle, “dass unsere Botschaft die nördliche Hemisphäre erreicht, die Länder, die den größten Teil der Welt kolonialisiert haben. Sie sind die Nutznießer der Ausplünderung. Aber jetzt kommt die Zeit der Abrechnung.” Bell als Stimme des Globalen Südens: “Wir müssen zusammenkommen und reden. Über berechtigte Ansprüche. Wir spüren die Stiefel der kolonialen Unterdrückung immer noch an unseren Kehlen.” 

Lazarus Gachanja, Künstler aus Kenia

Lazarus Gachanja aus Kenia

Demgemäß führt der Weg in die documenta-Halle durch einen tunnelartigen Vorbau aus rostigem Wellblech. Der junge Lazarus Gachanja vom “Wajukuu Art Project” beschallt Passanten hier mit Straßenlärm aus Kenias Hauptstadt Nairobi. “Das ist die Community, der Ort, aus dem wir kommen”, sagt er im DW-Gespräch. “Was Du nicht siehst, ist der Mist, der mit uns geschieht. Trotzdem mögen wir die Straße, in der wir leben.”

Kubas Künstler kämpfen um Kunstfreiheit

Im Inneren der Halle schweben zwei Skulpturen bäuchlings in einem Kokon aus Zweigen über einem Sandhaufen, unter dem sich ein Spiegel verbirgt.

Gruppenfoto mit INSTAR, das Künstlerkollektiv aus Kuba, kämpft für Meinungs- und Kunstfreiheit

INSTAR, das Künstlerkollektiv aus Kuba, kämpft für Meinungs- und Kunstfreiheit

“INSTAR” aus Kuba dokumentiert den Umgang der Regierung mit Kritikern. Rachel Larrión lebt jetzt in Spanien, für die documenta hat er eine Wandzeitung mit teils schockierenden Bildern gezeichnet. Strumpfmasken mit Gesichtern hängen auf Pfählen. INSTAR-Gründerin Tania Bruguera spricht im DW-Interview von rund 1500 politischen Gefangenen. Ihr einziges Verbrechen sei es gewesen, auf der Karibikinsel ihre Meinung vertreten zu haben. “Wir wollen der Welt klarmachen, dass gutes Wetter nicht gleichbedeutend ist mit einer guten Regierung.” Kunst als Mittel des politischen Kampfes? “Dafür ist die Kunst doch perfekt geeignet”, so Bruguera.

Im Bauhaus-Klinker eines stillgelegten Hallenbads ist die Arbeit des indonesischen Kollektivs Taring Padi anzutreffen. Es hat seine Arbeit als Retrospektive aus 22 Jahren installiert. Im früheren Schwimmbecken thematisiert die Gruppe auf wandfüllenden Gemälden und bedruckten Fahnen mit Figuren und Objekten das vom späteren diktatorisch regierenden Präsidenten Haji Mohamed Suharto verantwortete Massaker, dem Schätzungen zufolge Millionen Menschen zum Opfer fielen. Vor dem Gebäude und in anderen Teilen der Stadt steht eine Armee von so genannten Wayang Kardus – lebensgroße Figuren aus bemalter Pappe, auch sie eine Demonstration gegen Gewalt und Ausbeutung. 

Debatte um Antisemitismus

Am documenta-Standort WH22, einem alten Kulturareal unweit des Kasseler Hauptbahnhofes, kommt man bei dieser documenta wohl kaum vorbei. Dort stellt die palästinensische Gruppe “The Question of Funding” aus, an der sich eine Antisemitismusdebatte um die Weltkunstschau entzündete, die die documenta noch bis zum Eröffnungstag überschattete. Das Kuratorenteam wehrte sich gegen Vorwürfe, es hätte antisemitische Künstler eingeladen. In die Debatte schaltete sich der Zentralrat der Juden in Deutschland ebenso ein wie die Spitzen der Politik. Zuletzt kündigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an, bei der documenta-Eröffnung über die Grenzen der Kunstfreiheit zu sprechen. “Kunst muss Dialoge und Diskussionen auslösen”, betonte Steinmeier während seines Staatbesuches in Indonesien. “Aber ebenso klar ist, dass Debatten, Beiträge und die Botschaften auch Grenzen haben können. Über diese Grenzen wird zu sprechen sein.” Die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann äußerte im DW-Gespräch den Eindruck, die Debatte über Antisemitismus müsse “eigentlich losgelöst von der documenta” geführt werden. Jetzt müsse die Kunst sprechen. 

Mohammed Al Hawajiris Bilder zeigen anrückende isralische Soldaten

Mohammed Al Hawajiris Bilder zeigen anrückende isralische Soldaten

Mohammed Al Hawajri ist einer der Künstler des palästinensischen Kollektivs “The Question of Funding”: Er kombiniert in seiner Serie “Guernica Gaza” Bilder von Angriffen der israelischen Armee auf die palästinensischen Gebiete mit klassischen Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh. Der Serientitel stellt eine Verbindung zum Gemälde “Guernica” von Pablo Picasso her – es entstand 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt durch einen Luftangriff der “Legion Condor” Nazi-Deutschlands.

Israelische Künstlerinnen und Künstler waren nicht zur documenta eingeladen worden.

Steinmeier spricht zur Eröffnung

Indonesien Besuch Bundespräsident Steinmeier

Alles in allem gibt es viel zu entdecken auf der documenta fifteen, nicht zuletzt in den Karls-Auen, wo das Nest Collective aus Nairobi mit seiner aus Textilmüll und Elektroschrott errichteten Installation “Return To Sender” auf die Zerstörung von Umwelt und Märkten afrikanischer Länder aufmerksam macht.

Sitzen, reden, lauschen, staunen, chillen, Kino und Performances – das erwartet die Besucherinnen und Besucher der documenta in den nächsten hundert Tagen. Zur offiziellen Eröffnung an diesem Samstag werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Hessens Ministerpräsident Boris Rhein sowie der indonesische Botschafter Arif Havas Oegroseno erwartet. Die documenta gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Präsentation von Gegenwartskunst. Sie endet am 25. September.